Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen
Autoren: Sascha Arango
Vom Netzwerk:
wurde ihm, dass er seine Frau schonen und stattdessen Betty die ganze Wahrheit erzählen musste. Betty war hart im Nehmen, würde es eher verkraften als Martha, sie konnte ein neues Leben beginnen, einen Mann für das Kind finden, denn sie war geschaffen, um zu überleben.
    Mit einem vornehmen Knarren der Kirschholzstufen kam Martha die Treppe herunter. Sie trug ihren seidenen Hausanzug, japanische Strohsandalen, das dunkle Haar mit einer Ebenholzspange hochgesteckt. Wie immer strahlte sie ihn an, wenn sie ihn sah. Martha machte kaum ein Geräusch beim Laufen, so zierlich und leise war sie noch immer. Sie hatte in den vergangenen Jahren kein Gramm zugenommen. Seit Langem schliefen und arbeiteten sie getrennt. Sie oben, er unten. Sie schrieb weiterhin nur nachts, schlief nach wie vor bis zum Nachmittag, er kümmerte sich um alles andere. Sie hätten Dienstboten, Chauffeure und Gärtner haben können, aber Martha ertrug um sich keinen anderen Menschen als Henry. Wenn er die Spätnachrichten sah oder bis zum Morgengrauen an seiner übergroßen Streichholz-Bohrinsel klebte, hörte er sie im Obergeschoss im Kreis gehen. Dann ging er in die Küche und kochte Kamillentee. Er brachte die Kanne nach oben, stellte sie vor die Tür. Manchmal lauschte er, aber berührte die Tür nicht. Leise ging er die Treppe wieder hinunter. Irgendwann fing die Schreibmaschine zu klackern an. Der Dämon in ihr begann mit dem Diktat.
    Henry hatte seine Frau niemals beim Schreiben gesehen. Gut möglich, dass ihr Unterleib zu Marmor wurde, während sie schrieb, und Schlangen aus ihrem Haar züngelten. Er hatte nie gewagt, nachzuschauen.
    Â»Henry, wir haben einen Marder im Dach.«
    Â»Wen?«
    Â»Einen Marder. Er macht graue Linien.«
    Â»Graue Linien?«
    Â»Graue Streifen, die zu langen Linien werden.«
    Â»Wie bei Eichhörnchen?«
    Â»Länger und parallel.«
    Das deutete tatsächlich auf einen Marder hin. Wenn Martha kurze, graue Streifen sah, handelte es sich meist um kleine Nager, waren die Streifen aber lang und parallel, war es sicher ein größeres Tier.
    Martha war Synästhetikerin von Geburt. Jeder Geruch, jedes Geräusch ließ sie Farben und Muster sehen. Schon als sie in der Schule die ersten Buchstaben schreiben lernte, sah sie Photismen, welche die Worte kolorierten, meist nach dem Farbton des Anfangsbuchstabens. Sie hielt das für normal. Erst mit neun Jahren stellte sie fest, dass nicht jeder Mensch die wundersame Emanation der Wörter sah, was eigentlich schade ist. Sie erzählte ihrer Mutter davon, die ging sofort zum Arzt mit ihr. Der Mediziner war von der alten Schule und farbenblind. Er verschrieb dem Kind Medikamente, die nichts anderes bewirkten, als dick und träge zu machen. Martha würgte die Tabletten wieder aus und sprach nie mehr über die farbigen Erscheinungen. Es blieb ihr Geheimnis, bis sie Henry traf.
    Â»Kommst du bitte hoch und schaust nach?«
    Du, Schatz, ich bin leider deprimierend wertlos, wollte Henry sagen, so gar nicht deiner würdig. Ich habe den Tod verdient, warum kannst du mich nicht erlösen? Hab doch Mitleid und durchschaue mich endlich.
    Â»Was hältst du davon, wenn wir heute Abend Fisch essen, hm?«
    Â»Henry, ich grusele mich vor diesem Tier.«
    Â»Komm her, Schatz.« Er umarmte sie, küsste ihr Haar. Martha legte den Kopf an seine Brust, sog das Aroma seiner Haut ein.
    Â»Du riechst ein bisschen orange heute«, stellte sie fest, »ist es etwas Ernstes?«
    Â»Ich muss dir etwas sagen.«
    Â»Was?«
    Es wollte nicht über seine Lippen. Er murmelte etwas auch für ihn Unverständliches, lachte unsicher. Wenn er lachte, sah Martha tiefblaue Spiralen aus seinem Mund springen. Kein anderer Mann auf der Welt lachte reines Ultramarin mit tanzenden, sternförmigen Spritzern.
    Martha küsste Henry auf die Lippen.
    Â»Wenn es eine Frau ist, behalt’s für dich. Und jetzt lass uns nach dem Marder schauen, ja?«
    Sie nahm seine Hand und zog ihn hinter sich die Treppe hoch. Henry folgte ihr erfreut. Sie wusste es also schon und war nicht böse. Ihr Verständnis für seine Schwäche schätzte er besonders an ihr. Wann immer Henry zu anderen Frauen ging, tat er es deshalb mit Diskretion und Taktgefühl. Oft schämte er sich, häufig beschloss er, sich zu ändern. Doch jedes Mal, wenn er nach einem Seitensprung nach Hause kam, machte er verräterische
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher