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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen
Autoren: Sascha Arango
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»Hier, das ist Film, eine Paste, ein Schleim, ein Exkrement.«
    Â»Du hast ja so recht«, meinte Henry, »genau das sagt Martha auch immer. Aber ich kann doch so schlecht Nein sagen. Verstehst du das?«
    Obradin ließ den behaarten Zeigefinger wie ein Pendel schwingen. »Mir gefällt nicht, wie du heute redest. Was ist passiert?«
    Â»Nichts. Nichts ist passiert.«
    Â»Dann hab doch Erbarmen mit dir, Henry. Was interessiert dich noch Ruhm? Du genießt ihn doch nicht! Du versteckst dich vor ihm, weil du ein guter Mensch bist. Immer redest du schlecht über dich. Warum machst du das?«
    Â»Ich bin so, Obradin. Ich bin ein grundschlechter, völlig bedeutungsloser Mensch, glaub mir.«
    Obradin schloss die Augen zu Schlitzen. »Du weißt, was die Juden sagen: Aus Gedanken werden Worte und aus Worten Taten. Ich kenne schlechte Menschen, ich habe welche in der Familie, ich habe mit ihnen gewohnt, ich habe mit ihnen geschlafen und gegessen. Du bist keiner von ihnen, du bist ein guter Mensch. Deshalb lieben wir dich alle.«
    Â»Ihr liebt mich, weil ich für die Gemeindekasse spende.«
    Henry inhalierte den teerigen Rauch des Tabaks, unterdrückte das Husten und zog dabei ein Bein hoch wie ein Schreitvogel.
    Â»Scheiße, ist das scharf. Weißt du, was die Japaner sagen, Obradin?«
    Â»Wen interessiert, was die Japaner sagen?«
    Â»Sie sagen: Geliebt zu werden ist ein Verhängnis.«
    Â»Das mag schon sein, Henry. Aber woher wissen die das?« Obradin spuckte auf seinen Fliesenboden. »Schriftsteller wird man nicht einfach so, Henry. Ich weiß das, es ist ein Schicksal. Ich kann es nicht, meine Helga kann es nicht, und wir danken Gott dafür. Es muss eine Strafe sein.«
    Â»Da is’ was dran«, erwiderte Henry und deutete auf zwei Umrisse vor der zugeklebten Fensterscheibe. »Ich sehe Kundschaft.«
    Obradin schaute kurz hin. »Touristen«, konstatierte er abfällig.
    Â»Bist du sicher?«
    Â»Wer schaut sich meine Fischbilder an. Wer macht so was?«
    Â»Nur Touristen.«
    Â»Na, also. Sie kommen wegen dir. Pass auf.«
    Obradin stellte sich lauernd hinter die Fischtheke und legte die Zigarette auf das blutige Hackbrett. Die Türglocke klingelte. Zwei kegelförmige Frauen mit geröteten Wangen betraten den Laden. Sie stellten sich vor die Theke und betrachteten desinteressiert die toten Fische. Nein, sie waren nicht wegen der Fische hier. Der Zigarettenrauch irritierte sie. Die Ältere blickte vom Fisch zu Obradin, schloss die Augenlider und ließ sie vibrieren, wie es angelsächsische Frauen oft tun, warum, weiß keiner.
    Â»Do you speak English?«
    Obradin schüttelte den Kopf. Beide Frauen trugen weiße Sportschuhe und Rucksäcke aus Goretex. Ihre Haare waren kurz geschnitten, die Lippen schmal, die Haut rosig, unter dem Kinn der Älteren wackelte es, während sie mit der Jüngeren tuschelte. Henry räusperte sich.
    Â»Can I help?«
    Die Jüngere lächelte Henry schüchtern an. Ihre Zähne waren alabasterweiß und ebenmäßig. »Perhaps you know Henry Hayden?«
    Bevor Henry antworten konnte, fiel ihm Obradin ins Wort.
    Â» No .«
    Der Serbe stützte die haarigen Unterarme auf die Fischtheke. »No here. Here only fish.«
    Die Frauen sahen sich ratlos an. Die Jüngere drehte sich um, beugte sich etwas vor, die Ältere zog ein zerlesenes Buch aus dem Rucksack auf ihrem Rücken. Es war eine englische Ausgabe von Frank Ellis . Sie hielt es Obradin hin. Sie zeigte mit ihrem makellos sauberen Fingernagel auf Henrys Foto auf der Rückseite.
    Â»Henry Hayden. Does he live here?«
    Â»No.«
    Henry trat die Zigarette aus. Er ging federnd auf die Frauen zu. »Allow me.« Er streckte die Hand aus. Die Frau legte ihm überrascht das Exemplar in die Hand.
    Â»Hast du einen Stift, Obradin?«
    Obradin reichte ihm seinen mit Fischgedärmen beschmierten Bleistift.
    Â»What’s your name, Ma’am?«
    Die Ältere legte erschrocken die feingliedrige Hand auf den Mund. Sie hatte ihn erkannt. »Oh my god …«
    Â»Just Henry, Ma’am.«
    Henry liebte diese Momente. Gutes tun und sich wohlfühlen dabei. Kann es sinnvollere und zugleich angenehmere Tätigkeiten geben? Schließlich waren sie von weiß Gott woher angereist, nur um ihn zu sehen. So viel Mühe für das Almosen eines Augenblicks.
    Henry schrieb zwei kurze Widmungen, Obradin
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