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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen
Autoren: Sascha Arango
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seltene Vögel und Wildtiere gesehen und dabei sogar an Gewicht verloren. Die Gefahr, sich zu verlaufen, bestand kaum, denn zweihundertzwanzig Millionen Riechzellen in Ponchos Nase fanden den Weg zum Wagen zurück.
    Henry wählte diesmal ein Waldgebiet, vierzig Kilometer westlich des Ortes, das er schon einige Male mit dem Hund durchstreift hatte. Er stieg an einem herrlich schattigen Rastplatz aus. Nicht weit entfernt plätscherte eine Kaskade zwischen Farnen, der Duft von frischem Harz schwebte in der Luft, Sonnenlicht fiel durch die Wipfel und goss Glanz auf Millionen Blätter.
    Aus seiner Jackentasche zog er sein rotes Telefon, um den Akku einzulegen. Er rief Betty nie zweimal vom selben Ort an, das gehörte zu seinen präventiven Gewohnheiten, die er sich in den Jahren seines kompletten Verschwindens in einer überbevölkerten Welt angeeignet hatte. Er tippte den Code ein und wartete. Für dieses niedliche Ding kamen übrigens niemals Rechnungen, weil es ein Prepaid war. Guthaben dafür konnte man an jeder Tankstelle kaufen, praktisch, billig und anonym. Henry liebte das Inkognito.
    Betty antwortete beim ersten Klingelton. Ihre Stimme war belegt, sie hatte geraucht. »Hast du’s ihr gesagt?«
    Â»Ich erzähl dir heute Abend alles. Bist du im Verlag?«
    Â»Ich bleibe heute zu Hause. Wie hat sie reagiert?«
    Henry machte eine Wirkungspause. Diese hatte sich bei Telefonaten bestens bewährt, während en face das mysteriöse Lächeln unschlagbar dekorativ war. Man konnte einfach nichts falsch machen damit. »Martha ist wahnsinnig tapfer.«
    Er hörte das metallische Schnappen von Bettys Feuerzeug. Sie inhalierte Mentholrauch. »Moreany wird mich feuern, wenn er von uns erfährt.«
    Â»Von Martha wird er nichts erfahren.«
    Â»Bist du sicher?«
    Â»Absolut.«
    Â»Aber sie muss doch wahnsinnig wütend auf mich sein, oder?«
    Â»Ist sie auch. Hast du Angst um deinen Job, Betty?«
    Â»Ich? Nein. Sie tut mir einfach leid. Ehrlich gesagt, schäme ich mich ein bisschen.«
    Â»Warum erst jetzt?«
    Sie saugte an der Zigarette, Henry spürte förmlich die Spitze glühen. »Was soll das, Henry? Glaubst du, mir ist das alles egal?«
    Â»Es war dir bisher egal.«
    Â»Es war mir niemals egal. Jetzt bist du wieder so kalt. Lass es nicht an mir aus, ich versteh dich, es ist schwierig für dich, aber bitte gib mir nicht die Schuld.«
    Â»Es ist ganz einfach nur: die Wahrheit.«
    Â»Jap. Einfach nur. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es gerade in dir aussieht.«
    Das war besser so, wie Henry fand. Er sah, dass der Hund eine Witterung aufgenommen hatte und im Zickzack über die tauglitzernde Wiese rannte.
    Â»Du glaubst nicht etwa, dass ich mit Absicht schwanger von dir geworden bin, oder, Henry? Sei ehrlich.«
    Â»Ich bin immer ehrlich zu dir, Schatz. Immer.«
    Die Idee war ihm bisher nicht gekommen. Aber jetzt, da sie es ansprach, hielt er es durchaus für denkbar. Betty war fast fünfunddreißig, sie hatte lang gewartet, er hatte nicht aufgepasst – und jetzt war es halt passiert.
    Â»Lass uns Schluss machen, Betty.«
    Â»Wie meinst du das?«
    Â»Ich meine es ernst. Mein Guthaben läuft aus, ich hab noch dreißig Sekunden. Wir sprechen heute Abend.«
    Â»Du hast mich ein bisschen erschreckt, Henry. Wolltest du das?«
    Â»Nur ein bisschen. Kennst mich doch. Warte auf mich, ich bin um acht Uhr da. Und lass das Rauchen. Denk an unser Kind.«
    Â»Mach ich, Liebster. Du …«
    Â»Ja?«
    Â»Ich liebe dich.«
    Â»Du irrst.«
    Â»Das sagst du immer. Akzeptiere es, lass es zu. Ich hab dich lieb lieb lieb. Ich küsse dich.«
    Henry zog den Akku aus dem Telefon und wurde somit wieder unsichtbar. Betty hatte Angst, dass Martha sie bei Moreany verpfeifen könnte. Sie fürchtete zu Recht, ihren Status als Cheflektorin zu verlieren, den sie allein Martha verdankte, ohne es zu wissen. Moreany würde sie feuern, weil sie ihre Arbeit nicht mehr objektiv machen konnte. Aber das war doch gerade das Gute an ihr: Sie dachte nur an sich, er war Teil ihres Plans – und das gefiel Henry. Betty war exzentrisch, sie wollte Erfolg und gleichzeitig Intimität, gewissermaßen das Abenteuer Wildnis mit Zentralheizung. Tief im Inneren war sie verdorben und gewissenlos wie er selbst. Das machte alles leichter.
    Henry pfiff nach dem Hund. Er sah ihn etwa hundert Schritte entfernt.
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