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Die Süße Des Lebens

Die Süße Des Lebens

Titel: Die Süße Des Lebens
Autoren: Paulus Hochgatterer
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Null
    Das Kind schiebt den Zeigefinger langsam über den Rand der Tasse, bis die Fingerkuppe die gekräuselte Oberfläche berührt. Es beschreibt einen winzigen Kreis, hebt, sobald es sicher ist, dass die Haftung ausreicht, den Finger hoch, führt ihn vorsichtig an die Tassenaußenseite und streift ihn ab. Es weiß, dass manche Menschen keine Milchhaut mögen, aber das ist ihm egal. Der Kakao schmeckt bitter, genau so, wie es ihn mag, viel Kakao, wenig Zucker. Wenn es die Tasse erst kippt, dann wieder gerade stellt, zieht sich eine dunkelbraune Spur in ihr Inneres.
    Der Großvater spielt mit dem Kind ›Mensch ärgere dich nicht‹. Er weiß zwar, dass es allerlei neue Sachen zu Weihnachten bekommen hat, Lego, Bücher, eine Tierfamilie und einen Game Boy, aber seit das Kind zählen kann, spielt er mit ihm ›Mensch ärgere dich nicht‹. Weihnachten, hat er gemeint, sei kein Grund, etwas daran zu ändern. Am Anfang hat er dem Kind beim Zählen geholfen oder sich zu seinen Gunsten verrechnet, aber das ist jetzt alles nicht mehr nötig.
    Drei. Das Kind rückt den Stöpsel, der sich im Spiel befindet, Feld für Feld vor. Es hat immer nur einen Stöpsel im Spiel, und es hat immer die Farbe Gelb. Fünf. Der Soldat des Großvaters macht einen Riesensprung über all die Felder hinweg. Die Spielfiguren des Kindes heißen Stöpsel, jene des Großvaters Soldaten. Das war von Anfang an so. Die Soldaten des Großvaters sind blau. Sechs. Der Würfel kollert bis an den Rand der Tischplatte. Auf dem Boden gilt es nicht. Auch das war von Anfang an so. »Noch einmal«, sagt der Großvater. »Noch einmal«, sagt das Kind. Zwei. Schade. Manchmal wirft es zwei Sechsen hintereinander und dann noch eine Fünf. Der Großvater zieht die Augenbrauen hoch. »Acht«, sagt das Kind. Seit September besucht es die erste Klasse Volksschule. Neben ihm sitzt Anselm mit der Schielbrille. Der hat keine Ahnung von sechs oder acht. Der gelbe Stöpsel steht jetzt unmittelbar vor dem Eingang zum Stall. Wenn der Großvater eine Vier wirft, ist er tot. Die Finger des Großvaters sind knotig. Auf der Kommode steht ein winziger Christbaum mit drei silbernen Kugeln und einigen Lamettafäden. »Etwas Größeres zahlt sich für mich nicht aus«, hat der Großvater gesagt, und, als ihn das Kind gefragt hat, warum er keine Kerzen aufgesteckt hat: »Wenn ich einschlafe, ist das gefährlich.« Vier.
    Es läutet an der Tür. Der Großvater steht auf. Er wirft einen Blick auf das Spielfeld. Am Schluss hängt seine Hand für eine Sekunde an der Tischkante fest. Das Kind sieht nicht, wer in der Tür steht. Der Großvater spricht. Der andere spricht. Der Großvater wendet sich noch einmal um. »Vier«, sagt er, »ich hab dich.« Dann zieht er seine Jacke über und geht.
    Das Kind klettert die Bank entlang, zur Nische, schiebt die linke Hälfte des Vorhangs zur Seite. Draußen ist es Nacht. Um Weihnachten ist es immer sehr früh dunkel, was nichts macht, wenn der Mond scheint. Gegenüber mit erleuchteten Fenstern das Haus, in dem die Eltern wohnen, die Schwester, der Bruder, Emmy, der Hund, Gonzales, die Springmaus, die dem Bruder gehört, obwohl er sie nicht füttert, der weiße Delphin, das Rentier und die eine Puppe, von der sonst niemand den Namen kennt. Schräg hinter dem Haus die schwarzen Bäume, zwischen die man treten kann, und man ist trotzdem nicht im Wald. Wenn Emmy dabei ist, ist es überhaupt leicht, und man kann gehen und gehen, von Stamm zu Stamm, so weit, bis man das Himbeergebüsch sieht, und man hat immer noch keine Angst. Emmy ist ein Border-Collie, das sind die klügsten Hunde der Welt.
    Manchmal stellt sich das Kind vor, ganz woanders zu wohnen, unten in der Stadt, in einem winzigen Hinterzimmer der Trafik, in der die Mutter die Zeitungen kauft und die Zigaretten für den Großvater, oder in einer Wildfütterung oben in der Mühlau, wo die Straße nicht mehr asphaltiert ist und durch zwei Felstunnels führt, weil sie neben dem dahinstürzenden Bach keinen Platz hat. Es stellt sich vor, dass der Mond am Himmel steht und dass Emmy dabei ist und dass es Kastanien essen kann und Heu und dass es draußen ein wenig kalt ist und innen drin ganz warm, und es stellt sich vor, dass es irgendwann nach Hause kommt und die Mutter die Tür aufmacht und ganz überrascht schaut.
    Vier. Der gelbe Stöpsel steht da, ruht sich aus und ist beinah schon in Sicherheit. Der blaue Soldat steht auch da und ruht sich aus. Eigentlich könnte es so sein, dass beide nichts von
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