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Die vollkommene Lady

Die vollkommene Lady

Titel: Die vollkommene Lady
Autoren: Margery Sharp
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und spottend.
    „Du wirst ihn also doch heiraten, Julia?
Du wirst bereuen und büßen, ein neues Leben beginnen und die reine Lady Waring
werden? Erinnerst du dich an das, was du gestern sagtest, Julia? Weißt du noch,
was du mir auf der Terrasse sagtest, was du mir seit Wochen gesagt hast —
Julia, meine Liebe?“
    Die Fragen trafen sie wie Steine. Sie
wich vor ihnen zurück, bis sie mit dem Rücken an der Wand stand. „Sei ruhig!“
flüsterte sie heiser. „Still! Du verstehst nicht —“
    Bryan sah sie an und lachte. „Oh, ich
verstehe sehr gut sogar: als du ihn so weit hattest, schien dir der Fisch doch
zu golden, um ihn wieder auszusetzen. Aber glaub’ nur nicht, daß ich dir einen
Vorwurf machen will, meine Liebe, schließlich sind wir ja beide vom selben
Stall. Wir nehmen doch beide gern, was wir bekommen können, nicht wahr?“
    Julia befeuchtete sich die Lippen. „Susan
nicht!“ sagte sie. „Nicht Susan!“
    „Auch nicht, wenn ich sie bekommen
kann, meine Teure? Wir sind doch noch verlobt! Morgen wären wir es nicht mehr
gewesen — ich bin den ganzen Tag wie wild umhergelaufen, habe an Ihre vornehme
Gesinnung gedacht, Julia, und die große Entsagungsszene geprobt — oder doch
meine Rolle dabei; ich bin wie wild im Mondlicht umhergerannt — Gott sei Dank!
Sie haben meine Augen wieder geöffnet, Julia: jetzt sehe ich, wie herrlich Sie
mich beinah hereingelegt hätten. Warum sollte ich nicht Susan nehmen, wenn ich
sie kriegen kann?“
    „Sie werden nichts davon haben“, sagte
Julia etwas fester. „Keine zwei Jahre —“
    „Dann habe ich wenigstens zwei Jahre
gehabt, es stimmt schon, zwei Jahre werden uns beiden genügen. Sie werden mich
wahrscheinlich am meisten vermissen, Julia, Sie finden bestimmt nie wieder
einen Schwiegersohn, der Ihnen so ähnlich ist.“
    Endlich bewegte sich Julia. Sie löste
sich von der Wand und setzte einen Fuß auf die unterste Stufe der Treppe. Sie
mußte dicht an Bryan Vorbeigehen, aber sie sah ihn nicht an.
    „Wir sind uns gar nicht ähnlich“, sagte
sie. „Sie sind erbärmlich!“
    Und dann flüchtete sie ins Haus, in ihr
Zimmer und setzte sich zum zweiten Male in dieser Nacht vor den Spiegeltisch.
     
    *
     
    Das Gesicht, das ihr jetzt
entgegenblickte, hatte sich vollkommen verändert; in den zehn Minuten war es
alt geworden. Aber Julia hielt sich nicht lange mit der Betrachtung ihres
Spiegelbildes auf, sie hatte noch viel zu erledigen.
    Zunächst einmal mußte sie packen.
    Eigenartig — das fiel ihr erst auf, als
sie wieder in London war — eigenartig, wie wenig Mühe es ihr machte, einen
Entschluß zu fassen. Das heißt, sie faßte ja gar keinen Entschluß. Sie sah ganz
einfach vor sich eine Reihe vorherbestimmter Handlungen, die durchgeführt
werden mußten wie die Rolle in einem Stück. Die Gründe waren ihr egal, sogar
Susan schien ein farbloser, ferner Begriff zu sein.
    Erst mußte sie packen, dann unbemerkt
aus dem Haus schleichen und dann jemand auftreiben, der sie nach Paris mitnahm.
Zu dieser Jahreszeit gab es noch genug Wagen, die früh von Aix starteten. Einer
von diesen, am liebsten ein schwerer Tourenwagen mit einem einzelnen Fahrer,
würde sie schon an der Weggabelung nach Muzin aufnehmen. Das Ganze war nichts
als eins von ihren lustigen Abenteuern...
    Ich muß versuchen, etwas zu schlafen,
dachte Julia.
    Aber es gelang ihr nicht. Die kurze
Nacht verging, ohne daß sie ihre Augen auch nur für kurze Zeit hätte schließen
können. Zuerst füllte sie langsam und ungeschickt ihre beiden Handtaschen. Dann
fiel ihr ein, daß beide ihr zu schwer werden würden — sie packte also wieder
aus und fing von neuem an. Es ging sehr langsam: immer wieder ertappte sie sich
dabei, wie sie bewegungslos dastand, einen Strumpf in der Hand oder ein
Nachthemd über dem Arm, und vor sich hinstarrte.
    Wie lange sie so gestanden sein mochte
und an was sie gedacht hatte, wußte sie nicht. Gegen vier Uhr konnte sie sich
kaum noch auf den Beinen halten. Sie legte sich auf ihr kühles Bett und drehte
das Licht aus. Aber das Zimmer wurde nicht dunkel, das graue Zwielicht des
frühen Morgens füllte es schon, und die Angst, sie könnte verschlafen, trieb
Julia wieder hoch.
    Glücklicherweise fand sie etwas zu tun.
Sie trug noch das Taftkleid; sie hatte vergessen, es einzupacken und ließ es
jetzt liegen, wohin es gerade fiel, ein unordentliches Häufchen auf dem weißen
Boden. Sie wusch sich Gesicht und Arme in kaltem Wasser, zog ihr Leinenkostüm
an und versuchte
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