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Die vollkommene Lady

Die vollkommene Lady

Titel: Die vollkommene Lady
Autoren: Margery Sharp
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eine halbe Stunde lang, Rouge und Lippenstift dazu zu bewegen,
ihr natürliche Farben zu geben— sie wollte nicht wie eine gemalte Leiche
aussehen. Endlich gelang ihr der gewünschte Effekt. Sie beschloß, den großen
Ulster dazulassen, er war schon zu abgenutzt. Ohne ihn hoffte sie
unternehmungslustiger auszusehen.
    Noch eins blieb zu tun, das Schwerste.
    „Mein geliebter William“, schrieb
Julia, „es tut mir schrecklich weh, aber ich werde Dich nicht heiraten, und
deshalb sag’ ich jetzt: Leb wohl!“
    Die Worte schienen ihr sehr dämlich zu
sein, aber andere fielen ihr nicht ein. Sie las sie so oft durch, daß sie jeden
Sinn verloren, dann faltete sie den Zettel und ging auf den Flur, um ihn unter
Sir Williams Tür zu schieben.
    Da die Fensterläden geschlossen waren,
herrschte draußen im Flur noch finstere Nacht. Julia mußte plötzlich an die
Gewitternacht denken. Damals stand sie genau wie jetzt vor Sir Williams Zimmer,
sie hatte gezittert, so wie sie auch jetzt zitterte. Warum fühlte ich mich denn
damals so unglücklich, versuchte sich Julia zu erinnern. Ob ich dies schon
damals ahnte?
    Sie ließ die Frage fallen und machte
sich daran, die zweite der notwendigen Handlungen durchzuführen. Sie ging zur Haustür,
schob den Riegel zurück und war draußen. Dann mußte sie durch den Gemüsegarten,
um nicht durch das Dorf gehen zu brauchen, und durch das kleine Nebentor. Auch
das erledigte Julia ganz mechanisch.
    Nichts rührte sich. Sie ging die paar
hundert Meter, bis zu der Stelle, wo der Weg von Muzin in die große Landstraße
mündete. Aix lag zu ihrer Linken, rechts mußte Paris irgendwo liegen. Julia
setzte ihre Handtasche in den Straßenstaub und sich selbst auf die Handtasche
und wartete.
     
     
     

24
     
    D ie beiden Schwestern Marlowe sahen sich
mit einem gewissen Stolz als erfahrene Reisende an. Hauptsächlich und nicht
ganz zu Unrecht stützten sie diesen Anspruch auf ihre Gewohnheit, früh
aufzubrechen, wenn sie mit dem Wagen unterwegs waren. „Von sechs bis neun“,
konnte man oft die eine oder die andere einem interessierten Kränzchen in
Wimbledon erläutern hören, „von sechs bis neun — dann ist die Luft noch so
frisch und kein anderes Auto auf der Straße, um Staub zu machen.“ Hinzu kam
noch, daß sowohl die eine wie die andere Schwester es als eine Art prickelndes
Abenteuer empfanden, ein Hotel zu verlassen, wenn noch sonst jedermann schlief.
Sie fühlten, sie hatten der Zeit ein Schnippchen geschlagen, und zwar auf
Kosten der anderen Reisenden. Die Franzosen waren ja nun allerdings auch
Frühaufsteher; aber die englische und amerikanische Sektion wurde regelmäßig
von den Marlowes angeführt.
    So kam es, daß Julia, die noch immer an
der Wegegabelung wartete, zehn Minuten vor sieben sich eiligst erheben und
hinter der Hecke Deckung nehmen mußte. Der alte Wagen war leicht
wiederzuerkennen; sie hatte aber keinen Wunsch, von den Insassinnen erkannt zu
werden. Sie würden sie zwar bestimmt mitnehmen, aber sie würden auch sehr viel
über ihre drei Kinder wissen wollen. Immerhin, Julia sah ihnen beinahe
sehnsüchtig nach. Ihr Mut war inzwischen sehr tief gesunken, sie fühlte sich
vom Warten in der morgendlichen Frische steif und starr, und bislang hatte sie
keinerlei Glück gehabt. Von den drei Wagen, die sie schon passiert hatten,
enthielt der erste ein vollauf mit sich selbst beschäftigtes Paar, der zweite
eine Riesenfamilie— mit auf dem Dach festgeschnallten Kinderwagen — und der
letzte kam in einer solchen Fahrt dahergebraust, daß er sie beinahe überfahren
hätte.
    Ich werd’ wohl besser nach Belley
gehen, überlegte sich Julia; und begann mit der Entschlußkraft der Verzweiflung
— wie ein Schiffbrüchiger, der von seinem Floß springt und anfängt zu schwimmen
— mit schnellen Schritten die staubige Straße entlangzuwandern. Aber sie fühlte
sich ungewöhnlich schlapp in den Beinen; sie blieb stehen und sah sich noch
einmal um. Ein Wagen erschien gerade in der Kurve und kam mit mäßiger
Geschwindigkeit näher: ein Citroën, der eigentlich auf der Landstraße nichts
mehr hätte suchen dürfen, durchaus nicht der Wagen, den Julia sich gedacht
hatte; aber er wurde wenigstens nur von einem einzelnen männlichen Wesen
gefahren.
    Julia trat mitten auf die Straße und winkte;
der Citroën bremste ab, und Julia sah, daß der Fahrer sehr jung war — jünger
noch als Bryan. Seine Haare, seine Gesichtsfarbe und vor allem sein Regenmantel
ließen keinen Zweifel an seiner
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