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Die vollkommene Lady

Die vollkommene Lady

Titel: Die vollkommene Lady
Autoren: Margery Sharp
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Schwestern Marlowe in ihrem gewöhnlichen, gemütlichen Reisetempo
von fünfundvierzig Kilometern einen kleinen, lärmenden Citroen. Es war schon
halb elf, denn sie hatten sich in der Stadt mit einem tüchtigen Frühstück
gestärkt.
    „In dem Wagen möchte ich nicht sitzen“,
bemerkte die Ältere. „Es klingt, als ob er jeden Augenblick Schluß machen
wollte.“
    Ihre Schwester drehte sich mit
ungewohnter Behendigkeit auf ihrem Sitz um und sah zum Rückfenster hinaus.
    „Hast du denn gesehen, wer drinsaß?“
rief sie. „Die nette Frau, die wir damals mit nach Aix nahmen!“
    „Tatsächlich“, sagte ihre Schwester und
schaute ebenfalls nach hinten. „Aber das ist doch nicht ihr Mann?“
    „Nein, der hier ist ganz jung. Wir
sahen sie ja übrigens mit ihrem Mann vom Pernollet fortfahren. Sehr eigenartig!“
    Der Vorfall gab ihr einen
Gesprächsstoff, der bis Saulieu reichte, und dort speisten sie etwas zu
reichlich zu Mittag.
     
    *
     
    Susan und ihre Großmutter waren die
beiden einzigen, die sich in der Villa zum Mittagessen einfanden. Beide waren
sehr schweigsam. Die seltsame Geschichte, die Claudia zu erzählen hatte,
beschäftigte ihre Gedanken, lähmte aber ihre Zungen. Die junge Madame Packett
mußte schon recht früh weggegangen sein, denn um halb acht war sie nicht mehr
in ihrem Zimmer, und das Bett war unberührt gewesen. Monsieur sei erst um acht
fortgefahren. Sie, Claudia, habe ihn sogar aufwecken müssen, als sie den
Vorfrühstückstee brachte und einen Zettel, den sie an der Tür gefunden hatte...
    „Und er hat nichts bestellen lassen?“
fragte Mrs. Packett.
    „Gar nichts“, sagte Claudia. „Er
verschwand wie ein Wirbelwind. Er fragte, ob der große Wagen noch in der
Scheune stehe, und ich bin hinuntergelaufen und habe nachgesehen und bin
zurückgekommen und habe gesagt: ja, er ist da, und voilà — schon war er fort!“
    „Das klingt ja beinah wie eine
Schnitzeljagd“, sagte Susan mit einem seltenen Versuch zu scherzen.
    Etwas war geschehen, was sie nicht
erfassen konnte, und sie versuchte instinktiv, es zu bagatellisieren. Aber in
Wahrheit fühlte sie sich sehr bestürzt. Noch etwas anderes war geschehen, wovon
ihre Großmutter noch nichts wußte und dessen Konsequenzen sie sich nicht
klarmachen wollte. Bryan war dabei gewesen, als Claudia ihre Geschichte
vorbrachte. Ohne ein Wort zu äußern, ging er auf Julias Zimmer zu, riß die Tür
auf, knallte sie wieder zu und lief aus dem Haus.
    Susan wartete, bis Mrs. Packett sich
zurückgezogen hatte, dann tat sie es ihm nach; sie konnte jedoch nichts als ein
blaues Taftkleid sehen, das zerknüllt am Boden lag. Der Anblick kam ihr nicht
weiter bemerkenswert vor — Julia war immer unordentlich —, und einen Augenblick
stand sie ratlos. Bryans Gesichtsausdruck hatte sie eigentlich Julias Leiche
erwarten lassen. Plötzlich wandte sie sich um und lief, ohne recht zu wissen,
warum, aus dem Haus und den Weg hinunter, und als sie Bryan am Tor sah, rief
sie ihm zu, wohin er gehe.
    „Julia suchen“, antwortete Bryan kurz.
    „Aber — aber das ist doch Unsinn!“ rief
Susan. Sie war ihm ganz nahe gekommen, nur der Zaun war noch zwischen ihnen.
Sie wurde sich bewußt, daß sie unnötig laut gesprochen hatte, mäßigte ihre
Stimme und versuchte vernünftig zu reden. „Das ist doch lächerlich, Bryan!
Julia ist doch kein verirrtes Kind!“
    Seine Antwort darauf war gar keine
Antwort. Wie er weitereilte, wandte er sich halb um und sagte schroff über
seine Schulter: „Übrigens — ich hab’ ein Telegramm bekommen. Ich muß heute
abend noch nach London!“
    Weiter nichts. Susan kehrte ins Haus
zurück und beschäftigte sich wie jeden Morgen mit den Stücken von Racine. Sie
wußte nicht genau, ob sie ihn richtig verstanden hatte. Sicherheitshalber sagte
sie bei Tisch, als Mrs. Packett fragte, warum Bryan nicht da sei, daß er wieder
einmal einen seiner langen Spaziergänge unternehme.
    Aber sie fühlte, daß ihr irgend etwas
geschehen sei.
     
    *
     
    Julia und der junge Mann aßen zu Mittag
in einem kleinen Café in Arnay-le-Duc. Der junge Mann zahlte für sie beide, und
Julia ließ ihn; was konnte sie schon groß anderes tun? Sie fühlte sich so
niedergeschlagen, daß sie sich nicht einmal dazu bringen konnte, ihm die eine
oder andere Geschichte im Austausch für seine Freundlichkeit zu erzählen. Sie
hatte bis dahin gar nicht versucht, eine Erklärung abzugeben, und der lange,
heiße, staubige Nachmittag verstrich, ohne daß sie es nachgeholt
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