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Die vollkommene Lady

Die vollkommene Lady

Titel: Die vollkommene Lady
Autoren: Margery Sharp
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er. „
    „Den mein’ ich“, sagte Julia, „aber er
hat auch ein richtiges Antiquitätengeschäft. Einer von euch kann doch mal eben
hinlaufen und Mister Netherton herholen. Er wird euch bezahlen.“
    Sie berieten sich wieder, aber da sie,
noch dazu im Stehen, zwei Stunden gewartet hatten, waren sie bereit, sich auch
an einen Strohhalm anzuklammern. Julia hörte den festen Tritt der davongehenden
Füße und das Scharren der anderen, die zurückblieben. Sie trocknete ihre Hände
ab, zündete sich eine Zigarette an und griff nach dem Brief mit der
französischen Marke auf dem Teetisch.
    Obschon er erst am vorhergehenden Abend
eingetroffen war, kannte sie ihn bereits auswendig.
    „Meine liebe Mutter“, begann der Brief,
„es ist merkwürdig, daß Dir meine Handschrift unbekannt vorkommen wird. Ich
schicke diesen Brief durch die Bank, und falls Du nicht gerade verreist bist,
müßtest Du ihn eigentlich auf schnellstem Wege erhalten. Kannst Du hierher zu
mir kommen? Es ist zwar eine ziemlich lange Reise, aber die Gegend ist
wunderschön, oben an der Grenze von Hochsavoyen, und wir werden bis Oktober
hierbleiben. Aber ich möchte so gern, daß Du sofort herkommst, wenn Du es
einrichten kannst. Großmutter lädt Dich auch ein, so lange hierzubleiben, wie
Du magst. Wie Du wohl weißt, sind sie und Sir William Waring jetzt meine
Vormünder. Es handelt sich nun darum“ — hier wurde die kleine, zierliche
Handschrift plötzlich größer —, „daß ich heiraten möchte und Großmutter dagegen
ist. Ich weiß, es gibt da alle möglichen gesetzlichen Verwicklungen, aber
schließlich bist Du doch meine Mutter und solltest auch zu Rate gezogen werden.
Wenn Du also kommen kannst, fährst Du am besten mit dem Nachtzug elf Uhr
vierzig von Paris nach Anberieu, wo ein Auto auf Dich wartet. Ich hoffe sehr,
daß es Dir möglich sein wird.
    Deine Dich liebende Tochter Susan
Packett.“
     
    Für den Brief eines zwanzigjährigen
verliebten Mädchens an ihre Mutter war das Schreiben kaum gefühlvoll zu nennen;
doch Julia verstand. Infolge verschiedener Umstände hatte sie ihre Tochter seit
sechzehn Jahren nicht gesehen, und die bloße Tatsache, daß diese Tochter sich
jetzt ihrer erinnerte und sich an sie wandte, wirkte so rührend auf Julia, daß
sie selbst jetzt in der Badewanne, als sie den Brief zum zwanzigsten Male
durchlas, ein paar Tränen vergoß. Aber es waren Tränen der Empfindsamkeit,
keine Sorgentränen; bei dem Gedanken an eine Reise nach Frankreich, an eine
Liebesgeschichte, die ihrer Unterstützung bedurfte, brach ihre alte
Unbekümmertheit wieder durch. „Nehme Nachtzug Donnerstag. In Liebe Mutter“,
hatte sie zurücktelegrafiert und war sich erst dann ihrer ungewöhnlich
vertrackten Finanzlage bewußt geworden. Sie hatte kein Geld, keine passende
Garderobe, und ein Gläubiger saß ihr auf den Fersen. Aber wenn Susan sie nötig
hatte, spielte das alles keine Rolle. Susan brauchte sie, Susan war
unglücklich, und zu Susan würde sie fahren.
    Aber sie war doch Suzanne getauft
worden, dachte Julia plötzlich und starrte auf die Unterschrift, bis sie durch
den Ton von Mr. Nethertons Stimme, der sie begrüßte, in die Gegenwart
zurückgerufen wurde.
    „Meine liebe Julia!“ brüllte er
herzlich. „Was ist denn hier los, daß Sie mich holen lassen? Sie wollen sich
doch nicht wirklich ertränken? Dieser Mann...“
    „Er ist ein Gerichtsvollzieher“, rief
Julia, „und der andere auch. Schicken Sie die beiden weg.“
    Ein paar Augenblicke später verhallten
die schweren Fußtritte, und die leichteren kehrten zurück.
    „Nun, Julia, worum handelt sich’s?
Diese Leute...“
    „Sind sie weg?“
    „Jawohl, und ohne zu murren“, erwiderte
Mr. Netherton. „Es sind sehr zartfühlende Leute, meine Liebe, genau wie ich.
Aber sie sind nicht weiter als bis zur Treppe gegangen.“
    „Können sie uns hören?“
    „Sie können mich nur hören, wenn ich um
Hilfe rufe. Sie scheinen zu glauben, daß Sie im Badezimmer außer den üblichen
Einrichtungsgegenständen noch andere Sachen verborgen haben.“
    „Das habe ich“, sagte Julia. „Deshalb
wollte ich Sie ja sprechen. Ich habe verschiedene Sachen hier, die ich
verkaufen will, gute Sachen, Joe, und weil Sie immer anständig zu mir gewesen
sind, sollen Sie als erster Ihre Chance haben. Es handelt sich um einen roten
Lacktisch, eine neue Matratze, eine echt antike Standuhr, eine reizendes
Eßservice und ein Bild von einem Hirsch, ein wirkliches Ölgemälde. Ich will
nicht
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