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Die vollkommene Lady

Die vollkommene Lady

Titel: Die vollkommene Lady
Autoren: Margery Sharp
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    J ulia, durch Heirat eigentlich Mrs.
Packett, aus Höflichkeit aber Mrs. Macdermot genannt, lag in ihrer Badewanne
und sang die Marseillaise. Ihr schöner, kräftiger Alt hatte jedoch weniger
Resonanz als sonst, denn an diesem Sommermorgen enthielt das Badezimmer außer
den üblichen Einrichtungsgegenständen noch einen Lackteetisch, sieben
Hutschachteln, ein nicht mehr ganz vollzähliges Eßgeschirr, eine kleine
altmodische Standuhr, Julias sämtliche Kleider, eine Matratze, fünfunddreißig Romane,
drei Handkoffer und die Kopie eines Gemäldes von Landseer, einen Hirsch
darstellend. Das Echo war also schwächer als sonst, und wenn die Zimmerdecke
hin und wieder erzitterte, so war das nicht auf Julias Gesang zurückzuführen,
sondern darauf, daß die Leute von dem Bayswater Möbelverleihinstitut noch damit
beschäftigt waren, die geliehenen Möbel fortzuschaffen.
    Ein gelegentliches Füßescharren auf der
anderen Seite der Tür verriet, daß die beiden Gerichtsvollzieher nicht einmal
mehr einen Stuhl hatten, auf dem sie sich niederlassen konnten.
    So belagert, sang Julia. Mit jedem
Atemzug pumpte sie ihre Lungen voll mit dem nach Verbene duftenden Dampf und
strömte ihn in Form von ebenso vollen Brusttönen wieder aus. Sie tat dies weder
aus Trotz, noch um sich in Stimmung zu halten, sondern lediglich, weil sie um
diese Morgenstunde immer zu singen pflegte. Der kriegerische Klang ihrer Stimme
war nur eine Folge der kriegerischen Melodie, und daß sie gerade auf dieses
Lied verfallen war, hatte seinen Grund wiederum nur darin, daß sie am Abend
zuvor einen Brief aus Frankreich erhalten hatte. Sie sang, bis sie in einer
Atempause durch die Tür eine rauhe Stimme vernahm. „Sind Sie noch nicht fertig,
Mad’m?“ fragte die Stimme.
    „Nein“, sagte Julia.
    „Aber Sie baden schon anderthalb
Stunden“, protestierte die Stimme.
    Julia drehte den Warmwasserhahn auf.
Sie konnte fast unbegrenzt in der Badewanne liegenbleiben und hatte oft während
ihrer wiederholten Abmagerungsversuche nahezu kochend zwei bis drei Stunden
lang darin ausgehalten. Aber nichts — wie jetzt deutlich zu sehen war — hatte
Julia abzumagern vermocht. Nur einen Meter achtundfünfzig groß, hatte sie nun,
im Alter von siebenunddreißig Jahren, einen Brustumfang von fünfundneunzig,
eine Taillenweite von siebenundsiebzig und einen Hüftumfang von hundertundzwei
Zentimeter; und obwohl diese drei wichtigen Körperstellen durch äußerst
wohlgeschwungene Linien miteinander verbunden waren, träumte Julia von einer
modernen Streichholzfigur. Sie bemühte sich darum, aber nicht ausdauernd genug.
Ihr träger, fleischiger Körper weigerte sich, den Märtyrer zu spielen. Er
betrachtete Orangensaft als ein appetitanregendes Mittel und nicht als Nahrung,
und infolgedessen sah Julia, wie sie da rosig glühend vor Hitze, von
Dampfwolken umhüllt, müßig in der Wanne lag, wie eine Göttin auf einem barocken
Deckengemälde aus.
    Jetzt rüttelte es an der Tür. „Wenn Sie
hier eindringen“, rief Julia und drehte den Hahn ab, „werde ich Sie wegen
Hausfriedensbruch festnehmen lassen.“
    Tödliche Stille bewies, daß die Drohung
ihre Wirkung nicht verfehlt hatte. Es folgte eine murmelnde Beratung, dann
meldete sich eine zweite Stimme, die fast noch verdrossener klang als die
erste, zum Wort.
    „Es sind nur fünf Pfund, Mad’m“, sagte
die Stimme einlenkend. „Wir wollen Sie ja gar nicht belästigen...“
    „Dann gehen Sie doch“, entgegnete
Julia.
    „Das können wir nicht, Mad’m. Es ist
unsere Pflicht. Wenn Sie mit dem Kram herausrücken — oder besser noch, uns die
fünf Pfund bezahlen...“
    „Ich habe keine fünf Pfund“, sagte Julia
wahrheitsgemäß, und zum ersten Male umwölkte sich ihre Stirn. Nicht ein
einziges Pfund hatte sie: sie besaß genau sieben Schillinge und acht Pence, und
morgen früh mußte sie nach Frankreich reisen. Etwa fünf Minuten lang lag sie
ruhig da und ging in Gedanken, einen nach dem anderen, alle Menschen durch, die
ihr irgendwann einmal mit Geld ausgeholfen hatten. Sie dachte auch an
diejenigen, denen sie welches geliehen hatte, aber sowohl die einen wie die
anderen waren hoffnungslos. Mit aufrichtigem Bedauern gedachte sie des
verstorbenen Mr. Macdermot. Und schließlich fiel ihr Mr. Netherton ein.
    „He!“ schrie Julia. „Kennt ihr den
Antiquitätenladen an der Ecke der Straße?“
    Die Gerichtsvollzieher berieten sich. —
„Wir kennen nur den Laden von einem Pfandleiher, Mad’m. Netherton heißt
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