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Von ganzem Herzen Emily (German Edition)

Von ganzem Herzen Emily (German Edition)

Titel: Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
Autoren: Tanya Byrne
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    M ehr sollte in diesem Heft eigentlich gar nicht stehen. Doktor Gilyard überreichte es mir gestern mit der Aufforderung, einen Brief an Juliet hineinzuschreiben und es ihr zurückzugeben, wenn ich damit fertig war.
    Das wollte ich auch, aber als ich dann eine Zigarette oben auf meinem Schrank in Sicherheit brachte, entdeckte ich dort einen Brief an einen Jungen namens Will. Ich weiß, ich hätte es nicht tun dürfen, aber ich habe ihn gelesen, und auf einmal spürte ich mein Herz. Ich hatte nicht gewusst, dass es immer noch schlägt, aber jetzt spürte ich es wieder, heiß und rot klopfte es in meiner Brust.
    Keine Ahnung, warum der Brief da immer noch lag. Er steckte in einem Umschlag mitsamt Adresse und Briefmarke und allem. Vielleicht hat das Mädchen, das ihn geschrieben hat, vergessen, ihn mitzunehmen. Sonja, die Will liebt und vor mir in dem Bett hier geschlafen hat. Oder vielleicht hat sie sich auch nicht getraut, ihn abzusenden. Ich hab keine Angst davor. Wenn ich hier rauskomme, werde ich ihn sofort abschicken, denn Will, wer auch immer er ist, soll wissen, wie sehr er geliebt wird.
    Niemand wird mich jemals so lieben. Nicht nach allem, was passiert ist.
    Ich habe also den Brief an Will oben auf dem Schrank gefunden, und jetzt hast du mein Heft gefunden, und genau so sollte es auch sein, finde ich. Überall, wo ich hingehe, versuche ich, etwas von mir zu hinterlassen. Deshalb kann ich mich auch nie vollkommen verloren fühlen. Denn über ganz London sind Hinterlassenschaften von mir verstreut. Ein kleiner Dank auf der Rückseite eines Kassenbons bei Starbucks, Geständnisse, die ich auf Toilettentüren gekritzelt habe. Als wäre ich gleichzeitig überall. Kellnerinnen werden an mich denken und lächeln. Öffentliche Damentoiletten werden sich an mich erinnern. Ich werde ewig leben.
    Du solltest das auch tun – lass etwas oben auf dem Schrank liegen, bevor du gehst. Wenn du jemandem etwas sagen willst, aber es nicht kannst, schreib es auf und lass es irgendwo für jemand anders liegen, dann kann wenigstens der es lesen. Deshalb schreibe ich jetzt auch alles hier auf. So fällt es mir nämlich leichter. Ein bisschen, wie wenn du einem fremden Menschen neben dir im Bus alle deine Geheimnisse erzählst, die du deiner besten Freundin niemals anvertrauen kannst, weil beste Freundinnen sich später an alles erinnern.
    Okay, dann kann’s jetzt also losgehen. Ich werde ich sein, und du bist der fremde Mensch neben mir im Bus.

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    D as hier ist kein Tagebuch. Ich bin achtzehn. Ich habe nicht mehr die Geduld für Tagebücher. Ich hab auch nicht mehr die Geduld für eine geradlinige Erzählung. Ich versuche das eher zu vermeiden. Erwarte deshalb bitte keinen Erst-ist-dies-und-dann-das-geschehen-Bericht, denn so funktioniert mein Gehirn nicht. Außerdem würde dich das doch sowieso nur langweilen.
    Mit dem Heft kannst du im Übrigen anstellen, was du willst. Erzähl den Pflegerinnen davon, erzähl Doktor Gilyard davon, mir egal. Du kannst es auch auf den Schrank zurücklegen und so tun, als ob du es nie entdeckt hättest, wenn dir das lieber ist. Aber ich muss das alles jemandem sagen, einfach um es loszuwerden. Ich kann es nicht dauernd mit mir herumschleppen, das Gewicht erdrückt mich noch. Manchmal starre ich mich an, die gestrichelten Linien auf der Innenseite meiner Hand oder die Risse an meinem Ellenbogen, und habe das Gefühl, allmählich auseinanderzufallen. Als würde irgendwann alles aus mir herausplatzen.
    So wie heute bei Doktor Gilyard. Ich spreche dort sonst nie als Erste. Nie.
    Seit ich hier drinnen bin, habe ich einmal in der Woche einen Termin bei Doktor Gilyard, und ich habe noch nie freiwillig ein Wort gesagt. Aber heute Vormittag hab ich mich hingesetzt, und noch bevor sie ihr Notizbuch aufgeschlagen hatte, sagte ich zu ihr: »Ich weiß, was Sie über mich denken.«
    Es kam aus dem Nichts. Das schwöre ich. Einen Augenblick lang glaubte ich auch wirklich an das, was ich sagte. Und hatte das Gefühl, ihr plötzlich dahin zu folgen, wo sie mich schon die ganze Zeit haben wollte. Dann nahm sie ihre Brille ab, und während sie es tat, sah ich, wie ihre Finger zitterten, und mir wurde klar, dass ich bei ihr dieses Zittern ausgelöst hatte – ICH war es gewesen –, und meine innere Ordnung, die gerade leicht ins Wanken geraten war, kam wieder ins Gleichgewicht.
    »Was denke ich denn über dich, Emily?«, fragte sie. Zu spät, der Augenblick war vorbei. Ich
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