Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vollkommene Lady

Die vollkommene Lady

Titel: Die vollkommene Lady
Autoren: Margery Sharp
Vom Netzwerk:
mehr als dreißig Pfund für das Ganze haben.“
    „Aber nicht von mir“, sagte Mr.
Netherton.
    Julia setzte sich platschend auf.
    „Sie sind ein alter Gauner, Joe! Soviel
ist ja der Hirsch allein wert, und ich hatte auch gar nicht die Absicht, ihn
dazuzuschlagen. Wenn ich Ihnen den Tisch und die Uhr und eine neue Matratze und
ein Eßgeschirr für das Geld überlasse, ist das immer noch verdammt billig.“
    „Na schön, lassen Sie mich die Sachen
mal ansehen“, sagte Mr. Netherton geduldig.
    „Das können Sie natürlich nicht, ich
sitze in der Badewanne.“
    „Wollen Sie damit sagen, daß ich blind
kaufen soll?“
    „Erraten“, bestätigte Julia. „Riskieren
Sie mal etwas!“
    Mr. Netherton dachte nach. Er gehörte
zu den Menschen, die immer genau wissen wollen, woran sie sind.
    „Wenn ich Sie richtig verstanden habe,
wollen Sie mir für ganze dreißig Pfund irgendwelchen Krempel verkaufen, den ich
nicht einmal gesehen habe, der wahrscheinlich nur fünfundzwanzig Schillinge
wert ist und eigentlich irgendeinem Idioten gehört, der Ihnen Kredit gegeben
hat?“
    „Sehr richtig“, sagte Julia heiter, „nur
mit dem Unterschied, daß der Krempel mehr als sechzig Pfund wert ist und ich
nur fünf schuldig bin. Was ist Ihr Lieblingslied?“
    „An der schönen blauen Donau“,
antwortete Mr. Netherton.
    Julia sang es.
     
    *
     
    Eine halbe Stunde verging. Die Leute
von dem Bayswater Möbelverleihinstitut waren mit den geliehenen Möbeln
fortgegangen. Ein Mann von der Gasgesellschaft war dagewesen und hatte die
Gasleitung gesperrt. Aber die Gerichtsvollzieher harrten aus, und auch Mr.
Netherton blieb; denn Julias Persönlichkeit triumphierte sogar noch hinter
einer verriegelten Tür. Als sie sich müde gesungen hatte, unterhielt sie ihre
Zuhörer mit Anekdoten aus ihrer Theaterzeit, und als ihr keine mehr einfielen,
parodierte sie verschiedene Filmstars, und zwar mit solchem Erfolg, daß alle
überrascht waren, als die Großvateruhr zwölf schlug.
    „Ist das die echt antike?“ fragte Mr.
Netherton interessiert.
    „Ja“, sagte Julia und wurde sofort
wieder geschäftlich. „Nun hören Sie mal zu, Joe: ich muß morgen früh nach
Frankreich fahren. Ich brauche zehn Pfund für meine Rückfahrkarte und einen
Fünfer für diese Halsabschneider. Das macht genau fünfzehn, und ich hab’ nicht
einen einzigen Fetzen anzuziehen. Geben Sie mir achtzehneinhalb, und ich gebe
Ihnen den Hirsch noch dazu.“
    „Vierzehn“, sagte Mr. Netherton.
    „Siebzehn“, sagte Julia. „Seien Sie ein
Kavalier, Joe.“
    „Seien Sie ein Kavalier, Herr Chef“,
echoten die Gerichtsvollzieher, jetzt endgültig auf Julias Seite.
    Mr. Netherton fühlte sich schwach
werden. Ein Teetisch, ein Eßservice, eine Matratze und eine alte Standuhr — es
hing alles von der Uhr ab. Das Schlagwerk hatte sehr gut geklungen, und wenn
Julia die Uhr für echt hielt, würden die meisten anderen Leute sie
wahrscheinlich auch für antik halten. Vielleicht war es sogar wirklich ein
antikes Stück, und alte Standuhren verkauften sich heutzutage sehr gut...
    Julia hatte gewußt, was sie tat, als
sie an den Spieler in ihm appellierte.
    „Sechzehneinhalb“, sagte Mr. Netherton.
„Mein letztes Wort!“
    „Einverstanden“, rief Julia und stieg
endlich aus der Badewanne.

2
     
    J ulia sah ihren künftigen Gatten zum
ersten Male bei Tageslicht an einem Frühlingsmorgen im Jahre 1916, als sie um
halb zehn Uhr aufwachte und er noch neben ihr lag und schlief. Sie kannte
seinen Namen— Sylvester Packett— und wußte, daß er Oberleutnant bei der
Artillerie war. Aber obwohl er in sechs aufeinanderfolgenden Nächten von zwölf
bis vier Uhr morgens mit ihr getanzt hatte, war das auch alles, was sie von ihm
wußte. Er war der schweigsamste junge Mann, dem sie je begegnet war, nicht
einmal Champagner vermochte seine Zunge zu lösen; und sie hatte mit einem
leisen Bedauern — aber mit philosophischem Gleichmut — den Schluß daraus
gezogen, daß er nur mit ihr tanzte, weil er nicht schlafen konnte. 1916 waren
die jungen Leute nun einmal so; es hätte sie nicht im geringsten überrascht,
wenn er die Nacht nur deshalb bei ihr geblieben wäre, um zu sehen, ob er
vielleicht auf diese Weise etwas Schlaf finden konnte... Die achtzehnjährige
Julia erwog diesen Gedanken, ohne sich befremdet oder gekränkt zu fühlen: wie
bei so vielen anderen Dingen, war das eben einfach der Krieg.
    „Armer Junge“, flüsterte Julia, denn
sie wurde leicht sentimental. Der junge Mann
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher