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Wer nie die Wahrheit sagt

Wer nie die Wahrheit sagt

Titel: Wer nie die Wahrheit sagt
Autoren: Catherine Coulter
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1
MARYLAND
Unweit des Plum River
    Es war ein kalter Tag Ende Oktober. Ein kräftiger Wind zerrte die letzten bunten Herbstblätter von den Bäumen. Die Sonne brannte grell auf die verfallene rote Scheune herunter; seit mindestens vierzig Jahren schien sie nicht mehr gestrichen worden zu sein. Nur noch ein paar verblichene rote Streifen waren vom letzten Anstrich übrig. Ein trostloser Anblick.
    FBI Special Agent Dillon Savich schlich um die Ecke, seine SIG Sauer schussbereit in der rechten Hand. Er bewegte sich vollkommen lautlos, nicht einmal eine Maus hätte ihn hören können – eine Fertigkeit, die er sich über die Jahre mit viel Übung und eiserner Disziplin erworben hatte. Etwa fünf Meter hinter ihm näherten sich drei weitere Agenten, darunter seine Frau, bereit, ihn zu decken oder falls nötig auszuschwärmen. Alle trugen schusssichere Westen. Ein Dutzend Agenten näherte sich von der anderen Seite der Scheune; sie hatten jedoch Befehl, auf ein Signal von Savich zu warten, bevor sie etwas unternahmen. Sheriff Dade vom Jedborough County und drei seiner Deputies lagen zehn Meter hinter ihnen in einem dichten Ahorngehölz verborgen. Einer der Deputies, ein Scharfschütze, hatte die Scheune fest im Visier.
    Soweit lief alles nach Plan, was, wie Savich annahm, wohl alle überraschte, obwohl niemand etwas sagte. Er hoffte inständig, dass es auch weiterhin glatt ging, was jedoch nicht allzu wahrscheinlich war. Nun ja, er würde damit fertig werden, schließlich blieb ihm gar nichts anderes übrig.
    Die Scheune war größer, als Savich lieb sein konnte – mit einem riesigen Heuboden und viel zu vielen finsteren Winkeln. Zu viele Ecken und Nischen für einen Hinterhalt, zu viele Plätze, von denen aus die Agenten getroffen werden konnten.
    Ein perfektes Versteck für Tommy und Timmy Tuttle, von den Medien »die Hexer« genannt. Eine blutige Spur quer durchs ganze Land ziehend, waren sie hier in Maryland untergetaucht, doch nicht ohne sich zuvor zwei neue Opfer zu fangen, zwei junge Brüder, die sie geradewegs aus der Turnhalle entführt hatten, wo die beiden nach der Schule noch Basketball trainierten. Das war in Stewartville, etwa vierzig Meilen von hier gewesen. Savich glaubte, dass sie sich nach Maryland abgesetzt hatten, er hätte nicht sagen können, warum, es war nur so ein Bauchgefühl, aber er war sich ziemlich sicher. Die FBI-Profiler konnten dazu nicht viel sagen, außer dass Maryland an der Atlantikküste lag und ihre Flucht nach Osten somit vorerst vom Meer abgebremst worden wäre.
    Dann hatte sich MAX, Savichs Laptop-Superhirn, ins Katasteramt von Maryland gefressen und herausgefunden, dass Marilyn Warluski, eine Kusine ersten Grades der Tuttle-Brüder, die, wie MAX ebenfalls entdeckte, mit siebzehn Jahren ein Kind von Tommy Tuttle bekam, zufälligerweise dort ein kleines Grundstück besaß, in der Nähe eines dichten Ahornwäldchens, unweit des windungsreichen Plum River. Und auf diesem Grundstücksstreifen stand eine Scheune, eine riesige alte Scheune, die schon seit Jahren verfiel. Savich hätte bei dieser Entdeckung vor Freude fast einen Luftsprung gemacht und die Hacken zusammengeschlagen.
    Und nun, vier Stunden später, waren sie also hier. Ein Auto war nirgends zu sehen, doch das beunruhigte Savich nicht weiter. Wahrscheinlich war der alte Honda in der Scheune versteckt. Er beruhigte seinen Atem und lauschte. Die Vögel waren verstummt. Eine schwere, ja drückende Stille lag über der Gegend, als fürchteten selbst die Tiere, dass etwas geschehen würde – und zwar nichts Gutes.
    Savich hatte Angst, dass die Tuttle-Brüder längst wieder verschwunden waren. Alles, was sie, trotz der Stille, finden würden, wären ihre Opfer: zwei halbwüchsige Jungen – Donny und Rob Arthur – tot, schrecklich verstümmelt, die Leichen in einem großen schwarzen Kreis liegend.
    Nicht noch mehr Blut riechen, nicht noch mehr Tote sehen. Nicht heute. Nie mehr.
    Er warf einen Blick auf seine Micky-Maus-Armbanduhr. Höchste Zeit, einen Blick in die Scheune zu riskieren. Mal sehen, ob die bösen Jungs tatsächlich noch dort drin waren. Auf in den Kampf. Die Show konnte beginnen.
    MAX hatte in einer Computerdatei des Grundstücksamts einen Hinweis auf einen rohen Grundriss der Scheune gefunden, bereits fünfzig Jahre alt, registriert und hinterlegt. Aber wo? Das war die Frage. Sie fanden den Wisch schließlich in einem alten Aktenschrank im Keller der örtlichen Stadtplanungsbehörde. Aber die Zeichnung war
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