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Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Titel: Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort
Autoren: Batya Gur
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Erstes Kapitel

    Weil das Seminar des Fachbereichs von Scha'ul Tirosch geleitet wurde, wurde es sogar von den Medien aufgezeichnet: Im kleinen Saal standen schon die Fernsehkameras und die Mikrofone der Radioleute bereit. Die Kamera erfaßte klar Tiroschs gelassene Haltung, die Hand in der Hosentasche, die roten Schattierungen der Krawatte. Das erste Bild des Films würde ein Close-up seiner Hand sein, die ein Glas Wasser hielt. Er trank einen langen Schluck, dann hob er mit der für ihn so typischen Bewegung die Hand und führte sie zu der glatten, silbernen Haartolle. Dann richtete sich die Kamera auf das alte Buch, das er in seiner Hand hielt, zeigte auch die Manschetten des strahlendweißen Hemdes, die unter dem Ärmel seiner dunklen Anzugjacke hervorschauten, und näherte sich dann dem Namen, der mit goldenen Buchstaben auf dem Einband stand, Chaim Nachman Bialik. Erst danach erfaßte sie den ganzen Tisch.
    Flüchtig zeigte sie den gesenkten Kopf Tuwjas, die Hand, die unsichtbare Krümel von der grünen Tischdecke zu nehmen schien, und, im Profil, das junge Gesicht Idos, das zu dem langen, schmalen Gesicht Tiroschs erhoben war.
    Dies sei nicht das erste Mal, meinten die Leute des Fachbereichs, Scha'ul Tirosch sei schon immer der Liebling der Medien gewesen.
    »Tatsache ist doch«, sagte Aharonowitsch, »daß es wohl niemandem eingefallen wäre, ein Seminar des Fachbereichs Literatur zu filmen, wäre nicht der Name Tirosch damit verbunden.« Er ließ ein verächtliches Schnauben hören. Kalman Aharonowitsch konnte seinen Abscheu vor der Exzentrik, die allen Handlungen Tiroschs eigen war, nicht verbergen, »dieser billigen Theatralik«, wie er es nannte. »Und damit meine ich wirklich alle Handlungen«, sagte er und warf einen kritischen und ängstlichen Blick auf Ruchama.
    Die Kameraleute, die Techniker und die Redaktion der Abteilung Literatur beim Rundfunk, Journalisten und Fernsehleute, derentwegen Ruchama ihren festen Platz in der ersten Reihe gegen einen auf der rechten Seite hatte räumen müssen – alle waren da, bei diesem letzten Fakultätsseminar des Semesters.
    Die Mikrofone, die Scheinwerfer, die Fernsehkameras und der Fotograf, der geraume Zeit vor Beginn schon überall herumgehüpft war, hatten eine feierliche Erregung bei ihr wachgerufen, die sie hinter dem gelangweilten, desinteressierten Gesichtsausdruck verbarg, den man von ihr kannte. Das Bild, das Ruchama von ihrem Platz am Rand der zweiten Reihe wahrnahm, unterschied sich von dem der Kamera. Sie mußte sich anstrengen, um die Gruppe der Dozenten über die Locken Dawidows hinweg zu sehen. Dawidow war der Redakteur der Fernsehsendung »Die Welt der Bücher«, einer Sendung, die die Herzen aller werdenden Dichter und Schriftsteller bewegte.
    Die Anwesenheit Dawidows erregte auch Tirosch, der im Jahr zuvor während eines Interviews mit ihm in Streit geraten war, nachdem er den ersten Preis für Lyrik bekommen hatte. Er hatte den Mann seither nicht mehr gesehen. Zu Beginn jener Sendung hatte Dawidow Tiroschs preisgekröntes Gedicht Ein anderes Versinken vorgelesen und den Zuschauern erklärt, dies sei seine »Visitenkarte«; er hatte Tiroschs diverse Titel und die Liste seiner Auszeichnungen aufgezählt und erwähnt, daß Professor Tirosch an der Spitze des Fachbereichs Literatur der Universität in Jerusalem stehe und zugleich der Patron junger Schriftsteller sei; er hatte eine Ausgabe der »Vierteljahresschrift für zeitgenössische Literatur« gezeigt, deren Herausgeber Tirosch war, und sich dann in dramatischer Weise Tirosch zugewandt und ihn gefragt, was denn die Erklärung für sein Schweigen während der letzten sechs Jahre gewesen sei, eine Frage, die bislang noch nie jemand offen zu stellen gewagt hatte.
    Eine Szene aus dieser Sendung stand Ruchama jetzt wieder deutlich vor Augen, während Dawidows wirre Locken sie von Zeit zu Zeit zwangen, sich auf ihrem Stuhl zu bewegen, um die lange Gestalt, die das Buch hielt, besser sehen zu können: Dawidow, der die Hand auf die vier dünnen, berühmten Gedichtbände legt, die auf dem Tisch verteilt sind, und fragt, wie es kommt, daß ein Dichter, der sich den Weg bereits gebahnt hat, der seinen Stil gefunden hat, der sozusagen der geistige Vater aller nach ihm geschriebenen Lyrik geworden sei – wie es also geschehen konnte, fragt Dawidow, daß dieser Dichter in den letzten Jahren kein einziges neues Gedicht veröffentlicht hat, abgesehen von einigen politischen Protestgedichten, fügt er noch
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