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Friedliche Zeiten - Erzählung

Friedliche Zeiten - Erzählung

Titel: Friedliche Zeiten - Erzählung
Autoren: Rotbuch-Verlag
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Mein Vater mochte am Osten, daß sie es mit dem Sozialismus versucht hatten, und er mochte am Osten nicht, daß sie den Sozialismus nicht zum Laufen gebracht hatten, weil sie alle Idioten waren. Soviel wußten wir. Was er am Westen mochte, wußten wir nicht.
    Meine Mutter mochte am Westen, daß jetzt sie die Schlüssel verschwinden lassen konnte und nicht mehr ihre Mutter. Das jedenfalls sagte der Vater.
    Mein Vater mochte an meiner Mutter nicht, daß sie die Klo- und Badezimmerschlüssel immer verschwinden ließ und daß im Klo und Bad nicht geheizt werden durfte. Im Schlafzimmer auch nicht. Der Vater sagte, deshalb sind wir doch nicht in den Westen gegangen, daß man sich hier genauso den Hintern abfriert wie drüben, obwohl wir endlich Zentralheizung haben; und dauernd kommt jemand rein. Er drehte die Heizung an, aber bis die Heizung den Raum warm machte, hatte er sich den Hintern schon abgefroren. Sobald der Vater rauskam, ging die Mutter rein und drehte die Heizung wieder ab. Wasa und ich versuchten immer mal wieder, möglichst zu Hause gar nicht mehr aufs Klo zu gehen, weil man sich den Hintern abfror, und dauernd kam jemand rein, weil er nicht wissen konnte, daß besetzt war, aber doch meistens die Mutter. Sobald einer von uns auf dem Klo war, hatte die Mutter Angst, es könnte ihm schlecht werden, Kreislaufschwäche, Übelkeit oder so, und dann rief sie erst hinein, ist alles in Ordnung da drinnen mit dir, und der, der drin war, antwortete nicht, weil er ja auf dem Klo war, und dann kriegte sie es mit der Angst. Nämlich wenn er nicht antwortete, dann natürlich, weil ihm schlecht geworden war oder weil er eine Kreislaufschwäche hatte und in Ohnmacht gefallen war, und sie mußte ihn aus Ohnmacht und Übelkeit retten und also hinein. Der Vater sagte, was heißt hier Ohnmacht, das Kind wird erfroren sein; so kalt wie es in der Toilette ist, würde mich das nicht wundern. Jedenfalls konnte keiner ungestört auf dem Klo sein, auch nicht im Badezimmer, in den anderen Zimmern sowieso nicht, weil alle Schlüssel abgezogen und verschwunden waren, aber bei den anderen Zimmern hatten wir uns daran gewöhnt, daß wir keine Ruhe hatten, nur bei Badezimmer und Klo mochte sich niemand daran gewöhnen außer Flori, dem es egal war, wenn dauernd die Mutter reinkam und nachsah, ob alles in Ordnung war.
    Ich glaube, der ganze Krieg in dieser Wohnung hing mit der Schlüsselgeschichte zusammen, weil schließlich der Vater auch anfing, woanders das Klo und das Badezimmer zu benutzen, und als er damit anfing, sagte die Mutter weinend: Ich werde bestimmt mal nicht alt, ich sterbe bestimmt mal jung, und von dem Moment an hatte sie Wasa und mich auf ihrer Seite, obwohl wir in der Sache selbst eher auf der Seite unseres Vaters waren und selbst versuchten, nicht das Klo zu Hause, sondern das in der Schule zu benutzen; eine Zeitlang, als wir schon größer waren, fuhren wir sogar einen Bus früher, um rechtzeitig in der Schule zu sein und noch aufs Klo gehen zu können, aber das ging nur eine Weile, weil die Mutter natürlich merkte, daß wir morgens nicht mehr zu Hause aufs Klo gingen, und dann sagte sie, Kinder, ihr habt keine geregelte Verdauung, und von dem Moment an war sie in Sorge um unsere geregelte Verdauung, fragte uns nach allem, was mit einer geregelten Verdauung zusammenhängt, nach Blähungen oder Würmern, und weil wir keine Blähungen und Würmer hatten, sollten wir sofort zum Arzt, und sie lobte Flori, der eine vorbildlich geregelte Verdauung hatte, weil es ihm nichts ausmachte, daß sie während dieser Verdauung dauernd reinkam, um nachzusehen, ob er schon in Ohnmacht gefallen war, und um ihn womöglich zu retten, und Wasa und ich dagegen sollten wegen der gestörten Verdauung zum Arzt, was wir nicht mochten, weil es das Leben unserer Mutter verkürzte, wenn wir Sorgenkinder waren, die zum Arzt mußten und womöglich anschließend krank im Bett lagen und etwas Schlimmes hatten, denn wenn es keine Blähungen oder Würmer waren, war es bestimmt etwas Schlimmes; und wir wußten, daß sie dann nachts nicht würde schlafen können, sondern mit ihren Sorgen müde, aber wach im Bett liegen müßte, in dem der Vater, dem unsere Verdauung so gleichgültig war, daß er sich niemals danach erkundigte, sich seine rohe Seele aus dem Leib und ihr immer genau in die schlaflosen Ohren schnarchte, und schon am nächsten Tag würde sie wieder nicht alt werden, sondern jung sterben. Also gaben wir den frühen Bus wieder auf und taten zu
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