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Der Atem des Jägers

Titel: Der Atem des Jägers
Autoren: Deon Meyer
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    |5| I
Christine
    1
    Bevor der Priester den Pappkarton öffnete, stand die Welt für einen Augenblick still, und sie sah alles mit größerer Klarheit.
     Der kräftig gebaute Mann mochte etwa vierzig Jahre alt sein und hatte einen karoförmigen Leberfleck auf der Wange, der aussah
     wie eine zerquetschte Träne von blassem Rosa. Sein Gesicht war kantig und kraftvoll, sein sich lichtendes Haar zurückgekämmt,
     seine Hände waren groß und rauh wie die eines Boxers. Das Buchregal hinter ihm verwandelte die ganze Wand in ein Mosaik bunter
     Buchrücken. Es war ein Spätnachmittag im Freistaat, und die Sonne warf einen scharfen Lichtstrahl auf den Schreibtisch, einen
     magischen Sonnenkegel auf den Pappkarton.
    Sie preßte die Hände leicht auf ihre nackten, kühlen Knie. Ihre Handflächen waren feucht, ihr Blick suchte nach der leichtesten
     Veränderung seines Ausdrucks, aber sie sah nur die Ruhe und vielleicht eine geringe, unterdrückte Neugier darüber, was in
     der Kiste steckte. Direkt bevor er die Deckel beiseite klappte, versuchte sie sich zu sehen, wie er sie sah – versuchte den
     Eindruck einzuschätzen, den sie sich zu erwecken bemühte. Die Läden in der Stadt waren keine Hilfe gewesen, sie mußte mit
     dem arbeiten, was sie hatte. Ihr Haar war lang, glatt und frisch gewaschen, die bunte, ärmellose Bluse vielleicht für den
     Anlaß ein klein wenig zu eng. Ein weißer Rock, der knapp über ihre Knie rutschte, wenn sie saß. Ihre Beine waren ebenmäßig
     und schön. Sie trug weiße Sandalen mit kleinen goldenen Schnallen. Ihre Zehennägel waren nicht lackiert, darauf hatte sie
     geachtet. Nur ein einziger Ring, ein kleiner |6| Goldstreifen an ihrer rechten Hand. Leichtes Make-up, das ein ganz klein wenig die Fülle ihrer Lippen herunterspielte.
    Nichts konnte sie verraten. Außer ihren Augen und ihrer Stimme.
    Er öffnete die Deckelklappen, eine nach der anderen, und ihr fiel auf, daß sie an der Kante des Sessels saß und sich vorbeugte.
     Sie wollte sich zurücklehnen, aber nicht jetzt, jetzt wollte sie seine Reaktion sehen.
    Die zweite Deckelklappe bog sich zur Seite, die Kiste stand offen.
    »Grundgütiger Himmel«, sagte er und erhob sich halb.
    Er schaute sie an, schien sie aber nicht zu sehen und wandte sich wieder der Kiste zu. Er langte mit einer seiner großen Pranken
     hinein, holte etwas heraus, hielt es ins Sonnenlicht. »Grundgütiger Himmel«, wiederholte er, und seine Finger tasteten nach
     Echtheit.
    Sie saß regungslos da. Sie wußte, daß von seiner Reaktion alles abhing. Ihr Herz klopfte, so daß sie es beinahe hören konnte.
    Er legte den Gegenstand zurück in die Kiste, zog seine Hände heraus, ließ den Deckel offen stehen. Er setzte sich wieder,
     nahm einen tiefen Atemzug, als wollte er sich beruhigen, dann schaute er sie an. Was dachte er? Was?
    Dann schob er die Kiste zur Seite, als wollte er nicht, daß sie zwischen ihnen stünde.
    »Ich habe Sie gestern gesehen. In der Kirche.«
    Sie nickte. Sie war da gewesen – um ihn einzuschätzen. Um zu sehen, ob er sie bemerken würde. Aber das war unmöglich gewesen,
     da sie ohnehin geradezu für Aufruhr gesorgt hatte – eine fremde junge Frau in einer Kleinstadtkirche. Er hatte gut gepredigt,
     leidenschaftlich, mit Liebe in der Stimme, nicht so dramatisch und förmlich wie die Priester ihrer Jugend. Als sie die Kirche
     verlassen hatte, war sie sicher, daß es gut gewesen war, hierherzukommen. Aber jetzt war sie nicht mehr so sicher … Er wirkte
     verärgert.
    »Ich …«, sagte sie, suchte in Gedanken nach den richtigen Worten.
    |7| Er beugte sich vor. Er wollte eine Erklärung; das konnte sie gut verstehen. Seine Arme und Finger bildeten eine Gerade am
     Rande seines Schreibtisches, vom Ellenbogen bis zu den verschränkten Fingern, die flach auf dem Tisch lagen. Er trug ein Anzughemd,
     das am Kragen aufgeknöpft war, hellblau mit schmalen roten Streifen. Seine Ärmel waren hochgekrempelt, das Sonnenlicht schien
     auf die Haare der Unterarme. Von draußen waren die nachmittäglichen Geräusche eines Wochentags in der Kleinstadt zu hören
     – die Menschen in Sotho begrüßten sich über die Straße hinweg, der städtische Traktor beschleunigte – duh-duh-duh – zum Lager
     hin, die Grillen zirpten, ein Hammer traf auf eine Radfelge, und zwei Hunde bellten sinnlos gegen das Gehämmere an.
    »Ich muß Ihnen viel erzählen«, sagte sie, und ihre Stimme klang klein und verloren.
    Schließlich rührte er sich, öffnete
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