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Die vollkommene Lady

Die vollkommene Lady

Titel: Die vollkommene Lady
Autoren: Margery Sharp
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Schüchternheit, eine Art Schamhaftigkeit hinderte sie daran, die
unwahrscheinliche Größe ihres zukünftigen Glücks darzulegen. Sie gehörte
außerdem nicht zu dem Typ, dem es Freude macht, Salz in Wunden zu streuen.
    „Sehr nett, Fred. Ich hab’ einen
verdammten Dusel entwickelt.“
    „Ich weiß schon, wer da den Dusel
gehabt hat. Na, das nennt man eben Kriegspech. Ich geh’ jetzt wohl besser.“
    Julia zögerte. War es nicht grausam,
ihm nicht einmal einen Drink anzubieten, nachdem er für sie den langen Weg gemacht
hatte? Aber wozu? Er würde sich ungemütlich fühlen und sie sich nicht minder.
Und bei dem Gedanken, daß sie ihn vielleicht ihrer Schwiegermutter oder gar
Susan vorstellen müßte, kam ihr das Wort „ungemütlich“ sehr zahm vor. Das wäre
ganz simpel saumäßig scheußlich, wenn sie so sagen dürfte...
    „Siehst du, ich wußte es“, sagte Mr.
Genocchio langsam. „Ich hätte nicht kommen sollen, ich störe dich. Verzeih.“
    Wenn er sich doch nur hätte
davonschwingen können, siegreich lächelnd auf seinem hohen Trapez, unter ihm
das Dröhnen der Trommeln! Wenn er in ein Auto hätte springen können und mit
hundert Sachen davonbrausen! Aber hier stand er mitten auf einem Kiesweg,
zwanzig Schritt bis zum Tor, das viel zu hoch war, als daß er wenigstens mit
einem Satz hätte darübersetzen können. Einen schlechteren Abgang hatte er in
seinen schlimmsten Träumen nicht erlebt, er mußte sich schlecht und recht
drücken...
    Das Bewußtsein seiner Enttäuschung
lastete schwer auf Julias mitleidigem Herzen, so schwer, daß sie es nicht glaubte
ertragen zu können. Nicht nur ihr Mitleid, auch ihre wirkliche Zuneigung zu
Fred, ihr ganzes Theaterblut erhoben sich zu Protesten. Sie ergriff seine
Schultern, drehte ihn herum und reichte ihm ihren Mund.
    „Julia!“
    „Fred, mein Lieber!“
    Er drückte sie dicht an sich —
hoffentlich gibt das nicht wieder einen blauen Fleck, dachte Julia, schon
abgekühlt — dann stieß er sie fast von sich und eilte davon.
    Julia wandte sich zum Haus und begann
langsam hinaufzusteigen, ohne sich noch einmal umzusehen. Bis zur ersten Treppe
hielt der Gleichmut noch mit ihr Schritt: die Situation war mit Geschick, sogar
mit künstlerischem Geschmack — das heißt, jede Möglichkeit war erkannt und
ausgenutzt — und vor allem, wie es sich für eine Dame gebührte, gehandhabt
worden. Sie war sehr zufrieden mit sich selbst.
    Aber als das Haus in Sicht kam, verlor
ihre Stimmung etwas von dieser angenehmen Zufriedenheit. Die merkwürdige
Empfindung überkam sie, daß Brücken hinter ihr abgebrochen seien. Die
Empfindung war nicht nur merkwürdig, sondern auch höchst unangenehm. Und es
wurde noch schlimmer: ein furchtbarer Zweifel beschlich Julia. Hätte eine Dame
— eine richtige Dame — diesen letzten Kuß angeboren, ohne darum gebeten worden
zu sein! Und hätte sie diesen Kuß auch noch genossen? Julia erwog die beiden
Probleme sorgfältig und konnte auf das erste mit Ja antworten, denn Fred hatte
tatsächlich so ausgesehen, daß es gemein gewesen wäre, ihm die Freude
abzuschlagen; aber die zweite Frage, mußte sich Julia eingestehen, durfte nur
mit Nein beantwortet werden. Das gab ihr sehr zu denken, denn sie wußte genau,
daß sie von Herzen genossen hatte. Sie hatte, um die Wahrheit zu sagen, die
ganze Situation mitsamt dem Kuß so herzlich genossen, als habe sie Sir William
noch gar nicht getroffen.
    Ich bin schrecklich, dachte Julia mit
aufrichtiger Trauer. Aber sie bereute. Sie bereute tief, den ganzen Nachmittag
lang, bis es Zeit wurde, sich für Aix umzuziehen; und der Anblick von Sir
William im Frack vertrieb überhaupt jeden Gedanken aus ihrem Kopf.
     
     
     

23
     
    U m ein Uhr morgens kehrten Julia und Sir
William zur Villa zurück. Der Abend war vollkommen gewesen. Sie hatten
gespeist, ein wenig getanzt und hauptsächlich die anderen Gäste beobachtet —
Julia hatte wie gewöhnlich über alles und alle fortlaufend einen Kommentar
geliefert, Sir William hatte wie gewöhnlich zugehört und über ihre
Redewendungen und Gedankenflüge gelacht. Zu Julias großer Freude entdeckte sie
auch die „Dame mit dem Ekel“, die, in eiskaltem, seidigem Blau gekleidet, die
Dienste des besten Eintänzers für sich reserviert hatte und mit anscheinend
unüberwindlicher Verachtung entgegennahm. Ihr Begleiter aus dem Pernollet
bewunderte sie vom Rande der Tanzfläche aus.
    „Ist die nicht ganz groß?“ fragte
Julia.
    „Erstaunlich“, bestätigte Sir
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