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Zwei bemerkenswerte Frauen

Zwei bemerkenswerte Frauen

Titel: Zwei bemerkenswerte Frauen
Autoren: Tracy Chevalier
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I
    Anders als alle Steine am Strand
    D en Blitzschlag habe ich in meinem Leben immer wieder gespürt, in Wirklichkeit getroffen hat er mich aber nur einmal. Eigentlich sollte ich mich nicht daran erinnern können, ich war schließlich fast noch ein Baby, aber ich erinnere mich. Ich saß auf einem Feld. Pferde waren da und Reiter, die Kunststücke vorführten. Plötzlich zog ein Gewitter auf. Eine Frau, es war nicht Mam, nahm mich hoch und trug mich unter einen Baum. Als sie mich fest an sich drückte, schaute ich auf und sah ein Muster aus schwarzen Blättern vor weißem Himmel.
    Und dann war da plötzlich Krach, als würden alle Bäume umstürzen, und ein sehr helles Licht, wie wenn man in die Sonne blickt. Etwas durchzuckte mich, sirrend und heiß, als hätte ich ein glühendes Kohlenstück angelangt. Ich roch verbranntes Fleisch und spürte, dass da Schmerz sein musste, aber mir tat nichts weh. Mir war nur, als hätte man mein Inneres nach außen gestülpt.
    Dann begannen sie an mir herumzuzerren. Ich hörte Geschrei, konnte aber selbst keinen Ton von mir geben. Man trug mich irgendwo hin, und Wärme umhüllte mich, nicht von einer Decke, sondern feuchte Wärme. Es war Wasser, und Wasser kannte ich, denn unser Haus stand nah am Meer, ich konnte es vom Fenster aus sehen. Ich schlug die Augen wieder auf, und mir ist, als hätte ich sie seither nie mehr geschlossen.
    Der Blitz tötete die Frau, die mich hielt, und die beiden Mädchen daneben; doch ich hab ihn überlebt. Es heißt, vor dem Gewitter wär ich ein stilles, ständig kränkelndes Kind gewesen, aber danach hätte ich mich zu einem gesunden und quicklebendigen Mädchen entwickelt. Ob das stimmt, kann ich nicht sagen, doch ich spüre die Erinnerung an diesen Blitzschlag immer noch. Wenn mich etwas besonders bewegt oder erregt, durchfährt er mich wie ein Schauder. Ich hab ihn gespürt, als Joe den ersten Krokodilkopf fand und ihn mir zeigte; und als ich dann selbst den Körper dazu entdeckte, hab ich ihn wieder gespürt. Der Blitz kam auch, als ich andere Riesenbestien auf dem Strand fand und als mir zum ersten Mal Colonel Birch begegnete. Oft spüre ich den Blitz und weiß nicht, warum er da ist. Manchmal verstehe ich ihn nicht, doch ich höre auf das, was er mir sagt, denn der Blitz ist in mir, und ich bin der Blitz. Er ist in mich gefahren, als ich ein Baby war, und hat mich seither nie mehr verlassen.
    Jedes Mal, wenn ich ein Fossil finde, fühle ich das Echo des Blitzschlags in mir, dieses leise Sirren, das mir sagt: «Ja, Mary Anning, du bist anders als alle Steine am Strand.» Darum bin ich Fossilienjägerin geworden: Ich will den Blitzschlag spüren und dieses Anderssein. Jeden Tag will ich es spüren.

II
    Schmutzig, mysteriös und nicht
    sehr damenhaft
    M ary Anning führt mit den Augen. Gleich bei unserer ersten Begegnung fiel mir das auf, obwohl sie damals noch ein Mädchen war. Ihre knopfbraunen, hellwachen Augen scheinen, typisch für eine Fossilienjägerin, ständig nach etwas zu suchen, selbst dort, wo es wirklich nichts Interessantes zu finden gibt, auf der Straße etwa oder im Haus. Wegen dieser Angewohnheit wirkt sie sogar dann lebendig und voller Energie, wenn sie sich völlig ruhig verhält. Meine Schwestern behaupten, ich sei genauso, mein Blick schweife ständig suchend umher, statt stetig und fest zu sein. Nur, dass sie das nicht als Kompliment meinen, wie ich bei Mary.
    Ich beobachte seit Langem, dass Menschen meist mit einer besonderen Eigenheit des Gesichts oder des Körpers führen. Bei meinem Bruder John zum Beispiel sind es die Augenbrauen. Zum einen natürlich, weil sie ihm in markanten Büscheln über den Augen stehen, aber auch, weil sie der Teil seines Gesichts sind, der am häufigsten in Bewegung ist. Bei John scheinen die Augenbrauen den Gedanken zu folgen, unter denen sich die Stirn in Falten legt und wieder glättet. Nach Louise ist er das zweitälteste der Philpotkinder, und da er der einzige Sohn blieb, musste er nach dem Tod unserer Eltern die Verantwortung für vier Schwestern übernehmen, eine Pflicht, die einem leicht in die Augenbrauen steigen kann. Ein sehr ernsthafter Junge ist John allerdings schon immer gewesen.
    Meine jüngste Schwester Margaret führt mit den Händen. Sie sind zwar klein, haben aber überproportional lange und elegante Finger, so dass sie besser Klavier spielt als wir anderen. Beim Tanzen fällt sie durch betont graziöse Handbewegungen auf, und im Schlaf wirft sie die Arme hoch über den
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