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Auf dem Rücken des Tigers

Auf dem Rücken des Tigers

Titel: Auf dem Rücken des Tigers
Autoren: Will Berthold
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Heute abend werde ich sterben.
    Außer mir kennt nur noch der Mann in der Todeszelle seine letzte Stunde; sie könnte durch Gnadenerweis oder durch Hinrichtungsstopp ausfallen oder verschoben werden.
    In meinem Fall sind solcherlei Zufälligkeiten ausgeschlossen:
    Ich bin zugleich Richter, Henker und Opfer.
    Ich verlasse diese Bühne des Lebens, weil mir das Stück mißfällt. Die Zeit hat mein Ableben schon ein paarmal geprobt. Nach einem einschlägigen Aberglauben soll die Premiere glänzend verlaufen, wenn die Proben vor der Aufführung verunglücken.
    Ich bin übrigens kein Schauspieler, wenigstens nicht mehr als jeder andere auch auf dieser Schmiere.
    Ich gelte als Exzentriker.
    Ein solcher Ruf verpflichtet; deshalb habe ich einige ungewöhnliche Vorbereitungen getroffen: Ich habe das Telefon auf Tonband umgestellt, Eiswürfel auf Vorrat eingefroren und meine Whiskymarke in großer Menge bereitgestellt.
    Alle Gläser, die ich in meiner kleinen Schwabinger Mansardenwohnung finden konnte – es sind vierunddreißig –, stehen auf dem Tisch, gefüllt mit Schnaps. In eines habe ich Gift geträufelt.
    Blausäure, auch Zyankali genannt. Ich habe die Gläser durcheinander geschoben, immer wieder. Der Zufall soll die Hand führen, wenn es an der Zeit ist. Im Falle eines Treffers dauert der Rest dann sieben Sekunden – oder acht. Je nach körperlicher Kondition. Meine ist nicht sehr gut. Vielleicht schaffe ich es rascher.
    Jedenfalls: Mein Tod kommt on the rocks.
    In einer Stunde, höchstens in zwei.
    Wenn mich ein Anrufer bei dem letzten Akt stören sollte, wird ihm meine Stimme vom Tonband antworten: »Christian Schindewolff-Bamberg ist unterwegs. Danke für Ihren Anruf. Das Gerät schaltet jetzt ab.«
    Diesen kleinen technisch-zynischen Scherz wollte ich mir noch erlauben arn Ende meines Lebens, an einem Tag, dessen Schlagzeilen sich so lesen:
    IN AMERIKA WURDE EIN BEKANNTER NEGERFÜHRER, VORKÄMPFER DER GEWALTLOSIGKEIT, ERSCHOSSEN … DIE BUNDESWEHR VERLOR IHREN 83. STARFIGHTER … IN STOCKHOLM KONNTE EINE DEUTSCHE AUTOMOBIL FIRMA SICHERHEITSEXPERIMENTE MIT LEICHEN ERFOLGREICH ABSCHLIESSEN … IN HOLLAND TRAUTE EIN KATHOLISCHER PRIESTER ZWEI HOMOSEXUELLE MÄNNER … IN BIAFRA VERHUNGERN TÄGLICH MINDESTENS 500 KINDER … DIE HERZOGIN VON WINDSOR LIESS IN IHREM ROLLSROYCE ANSCHNALLGURTE FÜR IHRE MÖPSE EINBAUEN … DER PAPST ZOG SICH ZUM GEBET IN SEINE PRIVATKAPELLE ZURÜCK …
    Und die Gesellschaft wird einen Außenseiter verlieren, der einen lange währenden Selbstmord in Raten durch einen letzten Coup abschließt.
    Sie wird ihm – mir – nicht wie im Mittelalter nachträglich einen Pfahl durch den Leib rammen. Bei einigem Geschick der Angehörigen kann er sogar in geweihter Erde beigesetzt werden.
    Meine Angehörigen haben in jedem Fall Geschick. Außerdem sind sie reich. Unermeßlich reich. Vermutlich könnten sie für so viel Geld sogar einen Bischof engagieren. Die Kirche hat, laut Goethe, einen großen Magen.
    Mein letzter Abend. Die Dämmerung füllt den Raum mit Finsternis. Der Verkehrsstrom wird dünn. Der Lärm verebbt. Vom Fenster aus wirkt die Großstadtstraße unter mir wie ein ausgetrocknetes Flußbett.
    Auf einmal beginnt es in meinem Kopf zu rauschen, zu strömen, wild und tosend.
    Gegenüber meinem Hauseingang, auf der anderen Seite des Ufers, habe ich ihn wiedergesehen: den Burschen mit dem braunen Schlapphut, mit dem vom Eckenstehen geprägten Gesicht, in dem sich die Leere kumuliert.
    Er wird mich künftig nicht mehr verfolgen.
    Heute wartet er vergeblich.
    Ich werde dieses Haus nur noch einmal verlassen: mit den Füßen voraus.
    Wer ist hinter mir her? Was wollen diese Burschen von mir? Wer bezahlt sie? Sehe ich überhaupt noch richtig? Oder belügen mich meine Augen? Oder ist mein Gehirn schon angekränkelt?
    Jedenfalls bemerke ich in den letzten Monaten und Wochen immer die gleichen Gesichter in meiner Nähe. Will ich sie greifen, verschwinden sie. Beruhige ich mich, kehren sie zurück. Sie wechseln täglich dreimal. Ein Schlapphut. Eine Schirmmütze. Eine Stirnglatze.
    Sie kauern neben mir an den Bars. Sie lauern vor meinem Haus. Sie sehen beiseite, wenn ich ihre Augen suche. Sowie ich eine Bekanntschaft schließe – Menschen haben mich bis in die jüngste Zeit noch interessiert –, fürchte ich einem Verfolger in die Hände zu arbeiten.
    Der Kerl ist übrigens gerade abgelöst worden.
    Bis jetzt habe ich eine halbe Flasche getrunken: unvergällten Schnaps.
    Ich bin nicht
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