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Zwei bemerkenswerte Frauen

Zwei bemerkenswerte Frauen

Titel: Zwei bemerkenswerte Frauen
Autoren: Tracy Chevalier
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nächste getrieben werden mussten, und John fiel die Rolle des Schäfers zu.
    Am Morgen nach seiner Ankündigung legte er ein Buch auf den Frühstückstisch, das er von einem Freund ausgeliehen hatte. «Ich dachte, ihr wollt in den Sommerferien vielleicht einmal etwas Neues sehen und nicht schon wieder Onkel und Tante in Brighton besuchen», schlug er vor. «Wie wäre es mit einer kleinen Reise entlang der Südküste? Weil der Krieg mit Frankreich Reisen zum Kontinent unmöglich macht, sprießen in letzter Zeit überall Seebäder aus dem Boden. Eastbourne oder Worthing zum Beispiel. Oder ihr fahrt noch etwas weiter bis Lymington, vielleicht auch bis an die Küste Dorsets, nach Weymouth oder Lyme Regis.» John ließ diese Namen fallen, als hake er auf einer Liste in seinem Kopf einen nach dem anderen ab. So funktionierte sein ordentlich strukturiertes Anwaltsgehirn eben. Offenbar hatte er bereits eine genaue Vorstellung davon, wo er uns hinschicken könnte, wollte uns aber nicht zu sehr drängen. «Schaut einmal rein, was euch gefallen könnte.» John klopfte auf das Buch. Obwohl er es mit keinem Wort erwähnte, wussten wir alle, dass es um mehr ging als nur um ein Reiseziel. Wir sollten uns nach einem neuen Zuhause umschauen, in dem wir zwar einen etwas bescheideneren Haushalt führen würden, aber wenigstens nicht, wie es in London der Fall wäre, in Armut leben mussten.
    Sobald John sich in seine Kanzlei verabschiedet hatte, nahm ich das Buch zur Hand. «Führer zu Trink- und Badekuren für das Jahr 1804», las ich Louise und Margaret vor. Beim Durchblättern entdeckte ich, dass die englischen Städte alphabetisch aufgelistet waren. Das vornehme Bath hatte mit neunundvierzig Seiten natürlich den längsten Eintrag bekommen, ergänzt durch eine große Landkarte und eine ausklappbare Panorama-Ansicht der Stadt, deren elegante Fassaden sich harmonisch in die Hügel der Umgebung fügten. Über unser geliebtes Brighton gab es einen begeistert klingenden Bericht von dreiundzwanzig Seiten. Ich schlug die Städte nach, die unser Bruder erwähnt hatte. Einige waren gerade einmal bessere Fischerdörfer und gaben nicht mehr als zwei Seiten voller halbherziger Platituden her. John hatte die Orte seiner Wahl mit einem Punkt am Seitenrand markiert. Vermutlich hatte er alle Einträge des Buchs gelesen und sich für diejenigen entschieden, die seinen Vorstellungen am nächsten kamen. Er hatte ganze Arbeit geleistet.
    «Und warum nicht Brighton», fragte Margaret.
    Ich las gerade den Eintrag über Lyme Regis und lächelte ironisch: «Hier ist die Antwort.» Ich reichte ihr den Führer. «Schau, was John angestrichen hat.»
    «‹Lyme wird vor allem von Angehörigen der mittleren Gesellschaftsschicht aufgesucht», las Margaret laut vor. «Feriengäste entscheiden sich für diesen Ort, weil sie dort nicht nur Linderung für viele Krankheiten finden, sondern in Zeiten versiegender Einkünfte auch ihr angeschlagenes Vermögen schonen können.›» Sie ließ das Buch in den Schoß sinken. «Das heißt also, Brighton ist zu teuer für die Philpot-Schwestern.»
    «Du könntest hier bei John und seiner Frau bleiben», schlug ich in einem plötzlichen Anflug von Großzügigkeit vor. «Mit einer von uns kommen sie sicher zurecht. Wir müssen uns nicht gleich alle an die Küste verbannen lassen.»
    «So ein Unsinn, Elizabeth, wir lassen uns nicht auseinanderreißen», erklärte Margaret mit einer Loyalität, für die ich sie umarmen musste.
    In jenem Sommer reisten wir, wie von John vorgeschlagen, die Küste entlang. Mit von der Partie waren unsere Tante, unser Onkel, unsere zukünftige Schwägerin, deren Mutter und, wann immer er sich freimachen konnte, John. Unsere Begleiter ließen ständig Kommentare fallen: «Was für herrliche Gärten! Wie ich die Menschen beneide, die das ganze Jahr hier leben und sich in ihnen ergehen können!», hieß es da, oder «Diese Leihbibliothek ist so hervorragend bestückt, man könnte meinen, man wäre in London» oder «Ist die Luft hier nicht wunderbar mild und frisch? Ich wünschte, ich könnte sie das ganze Jahr atmen.» Die Anmaßung, mit der die anderen sich so selbstverständlich in unsere Zukunft einmischten, war verletzend, zumal sich dabei besonders unsere Schwägerin hervortat, die das Haus der Philpots übernehmen würde und sich nicht ernsthaft vorstellen musste, in Worthing oder Hastings zu leben. Ihre Kommentare wurden schließlich so ärgerlich, dass Louise sich immer öfter von
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