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Zwei bemerkenswerte Frauen

Zwei bemerkenswerte Frauen

Titel: Zwei bemerkenswerte Frauen
Autoren: Tracy Chevalier
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sich der weitere Verlauf der Küste dem Blick entzieht, fanden wir den Schlangenfriedhof. Es war eine glatte Kalksteinfläche, die von spiralförmigen Abdrucken übersät war. Die weißen Linien im grauen Stein stammten von Hunderten solcher Kreaturen, wie ich eine in der Hand hielt, nur dass diese riesig waren. Jede einzelne von ihnen hatte die Größe eines Speisetellers. Es war ein so ungewöhnlicher, auch bedrückender Anblick, dass wir schweigend dastanden und schauten.
    «Sind das Boa Constrictors, oder was?», fragte Margaret schließlich. «Die sind ja riesig!»
    «Aber in England gibt es keine Boa Constrictors», meinte Miss Durham. «Wie sollten sie hierher gekommen sein?»
    «Vielleicht haben sie vor ein paar hundert Jahren hier gelebt», überlegte Mrs Durham.
    «Oder sogar vor tausend oder fünftausend Jahren», warf Mr Durham ein. «Gut möglich, dass es schon so lange her ist. Vielleicht sind sie später in andere Teile der Welt abgewandert.»
    Für mich sahen die Abdrucke nicht wie Schlangen aus, allerdings auch nicht wie irgendein anderes Tier, das ich kannte. Ich balancierte über die Felsplatte, wobei ich meine Schritte vorsichtig setzte, um auf keine der Kreaturen zu treten. Natürlich war mir klar, dass sie schon lange tot waren und es sich auch nicht um Körper, sondern eher um deren Abdrucke im Stein handelte. Man konnte sich kaum vorstellen, dass sie einmal gelebt hatten. Ich fand, dass sie unvergänglich aussahen, als wären sie schon immer im Stein eingeschlossen.
    Wenn wir in Lyme leben würden, überlegte ich, könnte ich jederzeit hierher kommen und mir diese Versteinerungen anschauen. Und ich könnte kleinere Schlangensteine und andere Fossilien am Strand suchen. Das war doch etwas. Für mich war es genug.
    Unser Bruder war sehr erfreut über unsere Wahl. Lyme war kostengünstig, außerdem hatte sich William Pitt der Jüngere als junger Mann in der Stadt aufgehalten, um sich von einer Krankheit zu erholen. Für John war es beruhigend, dass ein britischer Premierminister hohe Stücke auf den Ort hielt, an den er seine Schwestern verbannte.
    Im nächsten Frühjahr zogen wir um. John hatte uns einen Cottage am oberen Ende der Silver Street gekauft, der hoch über den Stränden und den Läden der Broad Street lag, deren Verlängerung die Silver Street war. Bald darauf verkauften John und seine neue Frau unser altes Haus am Red Lion Square und schafften sich mit Hilfe der Mitgift unserer Schwägerin ein neues in der nahegelegenen Montague Street an, die direkt am Britischen Museum lag. Wir hatten nicht damit gerechnet, dass unsere Entscheidung uns gleich vollständig von unserer Vergangenheit abschnitt, doch so war es. Jetzt hatten wir nur noch die Gegenwart und eine Zukunft in Lyme.
    Auf den ersten Blick war der Morley Cottage ein Schock für uns. Die Zimmer waren klein, die Decken niedrig und die Fußböden uneben. Alles war ganz anders als in unserem Londoner Zuhause. Das kleine, aus Feldstein gebaute Haus hatte ein Schieferdach. Im Erdgeschoss gab es einen Salon, ein Esszimmer und eine Küche, darüber befanden sich zwei Schlafzimmer und noch eine Kammer unterm Dachvorsprung für unser Dienstmädchen Bessy. Louise und ich teilten uns ein Zimmer und überließen das andere Margaret, denn sie beklagte sich immer, wenn wir abends noch lange lasen; Louise in ihren Botanikbüchern und ich in meinen Werken zur Naturgeschichte. Für das Klavier unserer Mutter, ihr Sofa oder den Mahagoni-Esstisch reichte der Platz im Cottage nicht, wir mussten sie in London zurücklassen. Stattdessen kauften wir im nahe gelegenen Axminster kleinere und schlichtere Möbelstücke und in Exeter ein winziges Klavier. Diese rein äußerlichen Einschränkungen spiegelten unseren Niedergang von einer wohlhabenden Familie mit mehreren Dienstboten und vielen Besuchern zu einem stark verkleinerten Haushalt mit nur einem Dienstmädchen, das kochen und putzen musste. Und das in einer Stadt, deren Familien fast alle unter unserem gesellschaftlichen Niveau waren.
    Allerdings gewöhnten wir uns an unser neues Zuhause. Es dauerte gar nicht lange, da erschien uns unser altes Haus in London als viel zu groß. Mit seinen hohen Decken und den riesigen Fenstern war es schwer zu heizen gewesen, und seine Ausmaße überstiegen bei Weitem, was ein Mensch zum Wohnen brauchte. Was half all die Pracht, wenn man ihr als Bewohner keine eigene Größe entgegensetzen konnte? Der Morley Cottage hingegen war ein Damenhaus, hatte Damengröße und
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