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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Autoren: Milan Kundera
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fotografiert und sich Gefahren ausgesetzt hatte. Einzig während dieser Tage war die Fernsehserie ihrer Träume unterbrochen worden, waren ihre Nächte glücklich gewesen. Die Russen auf den Panzern hatten ihr Ausgeglichenheit gebracht. Nun war das Fest vorbei, sie fürchtete sich wieder vor den Nächten und wollte vor ihnen fliehen. Sie hatte erfahren, daß es Umstände gab, in denen sie sich stark und zufrieden fühlte, und sie wollte in die Welt hinaus in der Hoffnung, dort vielleicht ähnliche Umstände wiederzufinden.
    »Und es macht dir nichts aus«, fragte Tomas, »daß Sabina auch in die Schweiz emigriert ist?«
    »Genf ist nicht Zürich«, sagte Teresa, »bestimmt wird sie mir dort weniger im Weg sein als hier in Prag.«
    Wer den Ort verlassen will, an dem er lebt, der ist nicht glücklich.
    Tomas nahm Teresas Wunsch zu emigrieren hin wie ein Schuldiger den Urteilsspruch. Er fügte sich und fand sich eines Tages mit Teresa und Karenin in der größten Stadt der Schweiz wieder.
    13.
    Für die leere Wohnung kaufte er ein Bett (für andere Möbel war vorläufig noch kein Geld vorhanden) und stürzte sich mit der Besessenheit eines Menschen, der mit mehr als vierzig Jahren ein neues Leben beginnt, in die Arbeit.  Mehrmals rief er Sabina in Genf an. Zum Glück hatte sie ihre dortige Ausstellung eine Woche nach der russischen Invasion eröffnet. Die Schweizer Kunstliebhaber waren noch ganz von der Sympathiewelle für ihr kleines Heimatland mitgerissen und kauften ihr alle Bilder ab.
    »Dank der Russen bin ich reich geworden«, lachte sie ins Telefon und lud Tomas in ihr neues Atelier ein, das sich angeblich kaum von dem unterschied, das er aus Prag kannte.
    Er hätte sie gern besucht, fand aber keine Ausrede, um Teresa seine Reise zu erklären. So kam Sabina nach Zürich.
    Sie stieg in einem Hotel ab. Tomas besuchte sie nach seiner Arbeitszeit. Er rief sie von der Rezeption aus an und ging zu ihr aufs Zimmer. Sie öffnete und stand auf ihren schönen langen Beinen vor ihm, ausgezogen bis auf Slip und Büstenhalter. Auf dem Kopf trug sie den schwarzen Melonenhut.  Sie sah ihn lange an, regungslos und ohne etwas zu sagen.  Auch Tomas stand schweigend da. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er gerührt war. Er nahm ihr die Melone vom Kopf und legte sie auf das Tischchen neben dem Bett. Dann liebten sie sich, ohne ein Wort zu sagen.
    Auf dem Weg vom Hotel in seine Zürcher Wohnung (die längst mit Tisch, Stühlen, Sesseln und Teppich ausgestattet war) sagte er sich mit einem Glücksgefühl, daß er seine Lebensweise mit sich herumtrug wie eine Schnecke ihr Haus.  Teresa und Sabina verkörperten die beiden Pole seines Lebens, entfernt und unvereinbar, die beide auf ihre Weise schön waren.
    Aber gerade weil er sein Lebenssystem überall mit sich herumtrug, als wäre es ein Teil seines Körpers, träumte Teresa immer noch dieselben Träume.
    Sie waren schon sechs oder sieben Monate in Zürich, als er einmal spät am Abend nach Hause kam und auf dem Tisch einen Brief vorfand. Sie teilte ihm mit, daß sie nach Prag zurückgekehrt sei. Sie habe zurückfahren müssen, weil sie nicht die Kraft habe für ein Leben im Ausland. Sie wisse, daß sie Tomas hier eine Stütze sein müßte, aber sie schaffe es nicht. Törichterweise habe sie geglaubt, das Ausland werde sie verändern. Sie habe sich vorgestellt, daß sie nach all dem, was sie während der Invasionstage erlebt habe, nicht mehr so kleinlich sein werde, sondern erwachsen, klug und stark, doch habe sie sich überschätzt. Sie sei eine Belastung für ihn, und das wolle sie nicht sein.
    Sie wolle die Konsequenzen ziehen, ehe es endgültig zu spät sei. Und sie entschuldige sich bei ihm, daß sie Karenin mitgenommen habe.
    Er schluckte ein starkes Schlafmittel und schlief trotzdem erst gegen Morgen ein. Glücklicherweise war Samstag und er konnte zu Hause bleiben. Zum einhundertfünfzigsten Mal rekapitulierte er die Lage: Die Grenzen zwischen seiner Heimat und dem Rest der Welt waren nicht mehr offen wie zu dem Zeitpunkt, da sie weggefahren waren. Weder Telegramme noch Telefonate konnten Teresa zurückrufen. Die Behörden würden sie nicht wieder ausreisen lassen. Ihre Rückkehr war ganz und gar endgültig.
    14.
    Das Bewußtsein seiner Machtlosigkeit ließ ihn völlig erstarren, beruhigte ihn zugleich aber auch. Niemand zwang ihn, eine Entscheidung zu treffen. Er brauchte nicht auf die Mauern der Häuser gegenüber zu schauen und sich zu fragen, ob er mit ihr leben wollte
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