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Rom kann sehr heiss sein

Titel: Rom kann sehr heiss sein
Autoren: Henning Bo tius
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1. Hieronymus

    Jeder Mensch braucht seine Wüste. Sie muss nicht unbedingt aus Sand sein. Sie kann auch aus Wasser bestehen oder aus Häusern, aus Menschen, sogar aus einem selbst. Man könnte auch sagen, jeder Mensch braucht sein Patagonien, eine Landschaft, in der Schönheit und Unwirtlichkeit eine einmalige Verbindung eingehen. Ehe ich diese Lebensweisheit begriff, musste vieles geschehen. Vielleicht ist es besser, die Dinge der Reihe nach zu erzählen, obwohl ich wenig vom Nacheinander eines Ablaufs von Begebenheiten halte. Das konstante Vorrücken des Uhrzeigers täuscht etwas vor, das es eigentlich gar nicht gibt: Die Zeit ist alles andere als eine Straße, die nur in eine Richtung führt. Wer einmal in einer echten Wüste war, weiß, dass sich zwischen ihren endlosen Sanddünen, die sich alle so ähnlich sind, obwohl keine der anderen gleicht, das Gefühl für Raum und Zeit verliert. Aus dem Nacheinander wird unweigerlich ein Zugleich. Man fühlt sich, spätestens wenn das Abendlicht einsetzt und blaue Schatten die Dünenhänge emporwachsen, als sei man überall und nirgends und das für immer oder auch nur für einen Augenblick. Dieses endlose Rieseln der Sandkörner, das ein feines, fast unhörbares Geräusch erzeugt, verschüttet die Sekunden genauso wie die Jahre. Die Sanduhr, die schon in der Antike als Sinnbild für die Kürze menschlichen Lebens galt, ist in Wahrheit ein Symbol für die Ewigkeit. Wenn der obere Trichter leer ist, dreht jemand sie um, und alles beginnt von neuem.
    Zur Wüste gehört wesensmäßig der Durst. Man erträgt ihre grausame Wirklichkeit nur, wenn man den Durst erträgt. Dort, wo es Wasser gibt, verwandelt sich die Wüste in ihr Gegenteil: in eine Oase. Das Problem in meinem Falle: Ich bin leider kein Asket, jedenfalls kein freiwilliger. Ich bin ein Oasenmensch. Ich lagere am liebsten neben der Quelle, in einem gewissen Abstand allerdings, der verhindern soll, dass ich in den Brunnen falle und ertrinke. Das gilt für die Liebe genauso wie für die Stillung meines Wissensdurstes. Asket zu sein ist eine mir völlig fremde Form der umgekehrten Völlerei; es ist eine Art negativer Hedonismus. Ich bin weder Asket noch Hedonist, sondern irgendetwas Undefiniertes dazwischen, wie eigentlich die meisten anderen Menschen auch. Unglücksvermeidung statt Glücksbesessenheit ist meine vornehmliche Lebensstrategie.
    Vor einigen Jahren habe ich damit begonnen, mich mit meinem Namen zu beschäftigen. Namen sind auch in unserer aufgeklärten Zeit immer noch mehr als bloße Erkennungsmarken. Zuweilen scheinen sie ein magisches Substrat zu erhalten, das das Wesen oder das Leben des Trägers beeinflusst. Piet ist ein Allerweltsname. Er trägt sich angenehm wie eine kleine, leichte Maske der Anonymität. Ganz anders mein Nachname. Er ist ein Schwergewicht, er hat einen anspruchsvollen Klang. Und er ist wenig verbreitet, obwohl ihn Dürer durch seinen berühmten Kupferstich »Der heilige Hieronymus im Gehäus« auch den theologisch desinteressierten Zeitgenossen bis heute gegenwärtig hält. Vielleicht hat sich dieser Name so wenig durchgesetzt, weil jener große Gelehrte und zwielichtige Mann zum Symbol von Askese und Gelehrsamkeit wurde. Und wer will schon diese beiden Tugenden zu seinem erklärten Lebensideal machen!
    Heute frage ich mich, warum mir nicht mein anderer großer Namensvetter ähnlich wichtig war wie der heilige Hieronymus: jener rätselhafte Maler aus Hertogenbosch, der den Zeugnissen nach ein ganz normales bürgerliches Leben führte und, wie manche vermuten, geschützt von dieser Fassade, Mitglied einer verbotenen adamitischen Sekte war, deren Anhänger auf ihren Séancen völlig nackt auftraten und sich obskuren Ausschweifungen hingaben. Seine Bilder jedenfalls wirken durch ihre bizarren Darstellungen von Albträumen, ihre Monster und Chimären auf uns heute so modern, dass manche in ihm einen Vorläufer des Surrealismus sehen wollen und andere die Psychoanalyse mit ihrer Methode der Traumdeutung bemühen, um seine Bilder zu verstehen. Hätte ich gewusst, wie sehr ich selbst in eine solche verstörende und schockierende Bilderwelt hineingeraten würde, ich hätte Hieronymus Bosch vermutlich bei weitem mehr Interesse entgegengebracht als dem Kirchenfürsten.
    Eigentlich ist Hieronymus ein Vorname griechischen Ursprungs. Er lebt fort im englischen Gerome und im französischen Jérome, dessen berühmtester Träger Napoleon Bonaparte war, doch ich nehme an, nur seine Mutter durfte
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