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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Autoren: Milan Kundera
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oder nicht. Teresa hatte alles selbst entschieden.
    Zum Mittagessen ging er ins Restaurant. Er fühlte sich niedergeschlagen, doch schien die erste Verzweiflung während des Essens nachzulassen, als hätte sie an Stärke verloren, und es blieb nur noch Melancholie übrig. Er blickte auf die gemeinsam verbrachten Jahre zurück und sagte sich, ihre Geschichte hätte gar nicht besser enden können. Hätte sie sich jemand ausgedacht, er hätte sie nicht anders abschließen können: Teresa war eines Tages ungeladen zu ihm gekommen. Und eines Tages war sie auf dieselbe Weise wieder gegangen. Sie kam mit einem schweren Koffer angereist. Mit einem schweren Koffer reiste sie wieder ab.
    Er bezahlte, verließ das Lokal und ging durch die Straßen, voller Melancholie, die immer schöner wurde. Sieben Jahre des Zusammenlebens mit Teresa lagen hinter ihm, und nun stellte er fest, daß diese Jahre in der Erinnerung schöner waren als in der Wirklichkeit.
    Die Liebe zwischen ihm und Teresa war schön, aber anstrengend - ständig mußte er etwas verheimlichen, vertuschen, vortäuschen, wiedergutmachen, er mußte sie bei guter Laune halten, sie beruhigen und ihr dauernd seine Liebe beweisen, er mußte die Anklage ihrer Eifersucht, ihrer Leiden und ihrer Träume ertragen, sich schuldig fühlen, sich rechtfertigen und sie um Verzeihung bitten. Nun waren diese Belastungen verschwunden, und es blieb nur die Schönheit.
    Es ging auf Samstagabend zu, zum ersten Mal spazierte er allein durch Zürich und atmete den Duft seiner Freiheit.
    Hinter jeder Straßenecke war ein Abenteuer versteckt. Seine Zukunft wurde wieder zum Geheimnis. Das Junggesellenleben kehrte zu ihm zurück, das Leben, von dem er früher mit Sicherheit angenommen hatte, daß es für ihn bestimmt war, denn nur so konnte er sein, wie er wirklich war.
    Sieben Jahre war er an Teresa gekettet gewesen, und ihre Augen hatten jeden seiner Schritte verfolgt. Es war, als hätte sie ihm schwere Eisenkugeln an die Fesseln gebunden. Jetzt war sein Schritt plötzlich viel leichter. Er schwebte beinahe.  Er befand sich auf einmal im magischen Feld des Parmenides: er genoß die süße Leichtigkeit des Seins.
    (Verspürte er Lust, Sabina anzurufen? Sich bei einer der Zürcher Frauen zu melden, die er in den letzten Monaten kennengelernt hatte? Nein, dazu hatte er nicht die geringste Lust. Sobald er mit einer anderen Frau zusammen wäre, das ahnte er, würde die Erinnerung an Teresa ihm unerträgliche Schmerzen bereiten.)
    15.
    Diese eigentümliche melancholische Verzauberung hielt an bis Sonntagabend. Am Montag wurde alles anders. Teresa brach in sein Denken ein: er fühlte, wie ihr zumute war, als sie den Abschiedsbrief schrieb; er fühlte, wie ihre Hände zitterten; er sah, wie sie mit der einen Hand den großen Koffer schleppte, mit der anderen Karenin an der Leine hielt; er stellte sich vor, wie sie die Prager Wohnung aufschloß, und spürte in seinem eigenen Herzen, wie Verlassenheit und Einsamkeit ihr ins Gesicht wehten, als sie die Türe öffnete.
    Während dieser beiden schönen Tage der Melancholie hatte sein Mitgefühl geruht. Es schlief wie ein Bergmann am Sonntag nach einer Woche harter Schicht, um am Montag wieder in die Grube fahren zu können.  Er untersuchte einen Patienten und sah an seiner Stelle Teresa. Er wies sich im Geiste zurecht: Denk nicht an sie!
    Denk nicht an sie! Er sagte sich: Gerade weil ich an Mitgefühl erkrankt bin, ist es richtig, daß sie weggegangen ist und ich sie nie wiedersehen werde. Nicht von ihr muß ich mich befreien, sondern von meinem Mitgefühl, von dieser Krankheit, die ich früher nicht kannte und mit deren  Bazillus sie mich angesteckt hat!
    Am Samstag und Sonntag hatte er die süße Leichtigkeit des Seins aus der Tiefe der Zukunft auf sich zukommen gefühlt. Am Montag fiel eine Schwere auf ihn nieder, wie er sie bisher noch nicht gekannt hatte. All die eisernen Tonnen der russischen Panzer waren nichts, gemessen an dieser Schwere. Es gibt nichts Schwereres als das Mitgefühl. Selbst der eigene Schmerz ist nicht so schwer wie der Schmerz, den man mit einem anderen, für einen anderen, an Stelle eines anderen fühlt, der sich durch die Vorstellungskraft vervielfältigt, sich in hundertfachem Echo verlängert.
    Er ermahnte sich, dem Mitgefühl nicht zu erliegen, und das Mitgefühl hörte ihm gesenkten Hauptes zu, als fühlte es sich schuldig. Das Mitgefühl wußte, daß es sein Recht mißbrauchte, beharrte aber trotzdem stillschweigend
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