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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Autoren: Milan Kundera
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Tanzfläche gab.
    »Du fährst mit uns«, sagte der junge Mann in befehlendem Ton zum Vorsitzenden, und da er schon beim dritten Sliwowitz war, fügte er hinzu: »Wenn Mephisto Sehnsucht nach dir hat, dann nehmen wir ihn eben mit! Wir bringen gleich zwei Säue mit! Alle Frauen werden umfallen, wenn sie zwei Säue auf einmal sehen!« Und wieder lachte er lange.
    »Wenn ihr euch wegen Mephisto nicht schämt, dann fahre ich mit«, sagte der Vorsitzende, und sie stiegen alle in Tomas' Lastwagen. Tomas setzte sich ans Steuer, Teresa nahm neben ihm Platz, die beiden Männer mit der halb ausgetrunkenen Flasche auf dem Rücksitz. Sie hatten das Dorf schon hinter sich gelassen, als dem Vorsitzenden einfiel, daß sie Mephisto zu Hause vergessen hatten. Er rief Tomas zu, sie sollten umkehren.
    »Nicht nötig, eine Sau genügt«, sagte der junge Mann zu ihm, und der Vorsitzende gab sich damit zufrieden.
    Es dunkelte. Der Weg führte in Serpentinen bergauf.
    Sie kamen in der Stadt an und hielten vor dem Hotel.
    Teresa und Tomas waren noch nie dort gewesen. Eine Treppe führte ins Kellergeschoß hinunter, wo es eine Bar, eine Tanzfläche und einige Tische gab. Ein etwa sechzigjähriger Mann spielte auf dem Pianino, eine Dame gleichen Alters auf der Geige. Sie spielten vierzig Jahre alte Schlager. Auf dem Parkett tanzten einige Paare.
    Der junge Mann sah sich im Saal um und sagte: »Hier paßt mir keine«, und forderte Teresa sofort zum Tanz auf.
    Der Vorsitzende setzte sich mit Tomas an einen freien Tisch und bestellte eine Flasche Wein.
    »Ich darf nicht trinken! Ich muß fahren!« erinnerte ihn Tomas.
    »Quatsch«, sagte der Vorsitzende, »wir bleiben über Nacht hier«, und er ging gleich an die Rezeption, um zwei Zimmer zu reservieren.
    Teresa und der junge Mann kamen von der Tanzfläche zurück, und der Vorsitzende forderte sie auf; zuletzt tanzte sie mit Tomas.
    Beim Tanzen sagte sie zu ihm: »Tomas, alles Übel in deinem Leben kommt von mir. Meinetwegen bist du soweit gekommen. Bist so tief unten, wie man tiefer nicht sein kann.«
    Tomas sagte zu ihr: »Du bist wohl verrückt geworden?
    Was heißt denn hier tief?«
    »Wären wir in Zürich geblieben, würdest du jetzt Patienten operieren.«
    »Und du würdest fotografieren.«
    »Das ist ein idiotischer Vergleich«, sagte Teresa, »für dich hat deine Arbeit alles bedeutet, während es mir völlig egal ist, was ich tue. Ich habe überhaupt nichts verloren. Aber du hast alles verloren.«
    »Teresa«, sagte Tomas, »hast du denn nicht gemerkt, daß ich hier glücklich bin?«
    »Du warst dazu berufen zu operieren«, sagte sie.
    »Teresa, Berufung ist Blödsinn. Ich habe keine Berufung. Niemand hat eine Berufung. Und es ist eine ungeheure Erleichterung festzustellen, daß man frei ist und keine Berufung hat.«
    Es war unmöglich, seiner aufrichtigen Stimme nicht zu glauben. Das Bild des Vormittags tauchte wieder vor ihren Augen auf: er reparierte den Lastwagen, und er kam ihr alt vor. Sie war da angelangt, wo sie immer hatte sein wollen: immer hatte sie sich gewünscht, daß er alt wäre. Wieder erinnerte sie sich an das Häschen, das sie in ihrem Kinderzimmer an ihr Gesicht gedrückt hatte.
    Was bedeutet es, sich in ein Häschen zu verwandeln? Es bedeutet, daß man auf all seine Stärke verzichtet hat. Es bedeutet, daß der eine nicht mehr stärker ist als der andere.
    Sie bewegten sich im Tanzschritt zum Klang von Klavier und Geige, und Teresa hatte ihren Kopf auf seine Schulter gelegt. Wie damals, als sie zusammen im Flugzeug saßen, das sie durch den Nebel trug. Jetzt erlebte sie dasselbe sonderbare Glück, dieselbe sonderbare Trauer. Diese Trauer bedeutete: wir sind an der Endstation angelangt. Dieses Glück bedeutete: wir sind zusammen. Die Trauer war die Form und das Glück war der Inhalt. Das Glück füllte den Raum der Trauer aus.
    Sie kehrten an ihren Tisch zurück. Sie tanzte noch zweimal mit dem Vorsitzenden und einmal mit dem jungen Mann, der schon so betrunken war, daß er mit ihr aufs Parkett fiel.
    Dann gingen sie alle hinauf in ihre Zimmer.
    Tomas drehte den Schlüssel im Schloß und zündete den Lüster an. Sie sah zwei aneinandergeschobene Betten, neben dem einen den Nachttisch mit einer Lampe. Ein großer Nachtfalter, vom Licht aufgescheucht, flatterte vom Schirm empor und zog seine Kreise im Zimmer. Von unten erklangen gedämpft die Melodien von Geige und Klavier.
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