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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Autoren: Milan Kundera
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einige Tafeln Schokolade gekauft. Sie packte sie aus dem Silberpapier, brach sie in winzige Stücke und legte sie vor ihn hin. Dann stellte sie ein Schüsselchen mit Wasser dazu, damit ihm nichts fehlte während der Stunden, da er allein zu Hause bleiben würde. Der Blick, mit dem er sie vor einer Weile angesehen hatte, schien ihn ermattet zu haben. Obwohl die Schokolade vor ihm lag, hob er nicht mehr den Kopf.
    Sie legte sich zu ihm auf den Boden und nahm ihn in die Arme. Ganz langsam und erschöpft schnupperte er an ihr und leckte ihr ein- oder zweimal über das Gesicht. Sie empfing diese Liebkosung mit geschlossenen Augen, als wollte sie sie für immer in ihr Gedächtnis einprägen. Sie drehte den Kopf, damit er ihr auch die andere Wange leckte.
    Dann mußte sie zu ihren Kälbchen gehen. Sie kehrte erst nach dem Mittagessen zurück. Tomas war noch nicht zu Hause. Karenin lag noch immer vor den Schokoladestückchen, und als er sie kommen hörte, hob er den Kopf nicht mehr. Sein krankes Bein war angeschwollen und das Geschwür an einer neuen Stelle aufgeplatzt. Ein hellrotes Tröpfchen (es sah nicht aus wie Blut) kam zwischen den Haaren zum Vorschein.
    Wieder legte sie sich zu ihm auf den Boden. Sie hatte einen Arm um seinen Leib geschlungen und hielt die
    Augen geschlossen. Dann hörte sie jemanden an die Tür pochen. Es ertönte ein »Herr Doktor, Herr Doktor! Hier ist das Schwein und sein Vorsitzender!«. Sie war nicht imstande, mit jemandem zu sprechen. Sie rührte sich nicht und hielt die Augen weiter geschlossen. Noch einmal war ein »Herr Doktor, die beiden Säue sind da!« zu hören, und dann war es wieder ruhig.
    Tomas kam erst eine halbe Stunde später. Er ging wortlos in die Küche und bereitete die Spritze vor. Als er das Zimmer betrat, war Teresa bereits aufgestanden, und Karenin machte große Anstrengungen, sich zu erheben. Als er Tomas sah, wedelte er schwach mit dem Schwanz.
    »Schau mal«, sagte Teresa, »er lächelt noch immer.«
    Sie sagte es in flehendem Ton, als wollte sie mit diesen Worten um einen kurzen Aufschub bitten, doch sie beharrte nicht darauf.
    Langsam legte sie ein Leintuch auf das Sofa. Es war ein weißes Leintuch mit einem violetten Blumenmuster. Sie hatte schon alles vorbereitet und an alles gedacht, als hätte sie sich Karenins Tod bereits viele Tage im voraus vorgestellt.
    (Ach, wie schrecklich ist es, daß wir im voraus vom Tod derer träumen, die wir lieben!) Karenin hatte nicht mehr die Kraft, auf das Sofa zu springen. Sie nahmen ihn auf die Arme und hoben ihn gemeinsam hoch. Teresa legte ihn auf die Seite und Tomas untersuchte sein Bein. Er fand eine Stelle, an der die Ader gut sichtbar hervortrat. Dort schnitt er mit einer Schere die Haare ab.
    Teresa kniete neben dem Sofa und hielt Karenins Kopf ganz nah an ihrem Gesicht.
    Tomas bat sie, die Hinterpfote über der Vene fest zu drücken, denn sie war so dünn, daß man die Nadel nur mit Mühe einführen konnte. Sie hielt Karenins Pfote fest, ohne ihr Gesicht von seinem Kopf abzuwenden. Ununterbrochen redete sie mit leiser Stimme auf ihn ein, und er dachte nur an sie. Er fürchtete sich nicht. Er leckte ihr nochmals über das Gesicht. Und Teresa flüsterte ihm zu: »Hab keine Angst, hab keine Angst, dort wird dir nichts mehr weh tun, dort wirst du von Eichhörnchen und Hasen träumen, dort gibt es Kälbchen und auch einen Mephisto, hab keine Angst ...«
    Tomas stach die Nadel in die Vene und drückte auf den Kolben. Karenin zuckte ein wenig mit dem Bein, sein Atem wurde etwas schneller und hörte dann ganz auf. Teresa kniete auf dem Boden neben dem Sofa und preßte ihre Wange an seinen Kopf.
    Sie mußten beide wieder arbeiten gehen, und der Hund blieb auf dem Sofa liegen, auf dem weißen Leintuch mit den violetten Blumen.
    Am Abend kehrten sie zurück. Tomas ging in den Garten.
    Zwischen den Apfelbäumen fand er die vier Linien des Rechtecks, das Teresa vor ein paar Tagen mit dem Absatz in die Erde gezogen hatte. Er hielt sich genau an die vorgezeichneten Maße. Er wollte, daß alles so war, wie Teresa es sich wünschte.
    Sie blieb bei Karenin im Haus. Weil sie fürchtete, sie könnten ihn lebendig begraben, legte sie ihr Ohr an seine Schnauze und glaubte, noch ein schwaches Atmen zu hören.
    Sie trat etwas zurück und sah, wie sein Brustkasten sich leicht bewegte.
    (Nein, sie hatte den eigenen Atem gehört, der ihren Körper unmerklich in Bewegung versetzte, so daß sie den Eindruck hatte, die Brust des Hundes bewegte sich.)
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