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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Autoren: Milan Kundera
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Sie fand einen Spiegel in ihrer Handtasche und hielt ihn vor
    Karenins Schnauze. Er war etwas schmutzig, und so glaubte sie, darauf den Beschlag seines Atems zu sehen.
    »Tomas, er lebt noch!« schrie sie, als Tomas in seinen erdigen Stiefeln aus dem Garten zurückkam.
    Er beugte sich über ihn und schüttelte den Kopf.
    Sie faßten jeder von einer Seite das Leintuch, auf das er gebettet war. Teresa an den Füßen, Tomas am Kopf. Sie hoben ihn hoch und trugen ihn in den Garten.
    Teresa fühlte an ihren Händen, daß das Tuch feucht war.
    Er ist mit einer Pfütze zu uns gekommen, und mit einer Pfütze ist er von uns gegangen, dachte sie und war froh, die Feuchtigkeit an ihren Fingern zu spüren, den letzten Gruß des Hundes.
    Sie trugen ihn zwischen die beiden Apfelbäume und ließen ihn in die Erde hinunter. Sie neigte sich über die Grube und richtete das Leintuch so, daß es den ganzen Körper bedeckte. Der Gedanke, die Erde, die sie gleich auf ihn werfen würden, könnte auf seinen nackten Körper fallen, war ihr unerträglich.
    Dann ging sie ins Haus zurück und kehrte mit dem Halsband, der Leine und einer Handvoll Schokoladestückchen zurück, die seit dem Morgen unberührt auf dem Boden gelegen hatten. Sie warf alles in sein Grab.
    Neben der Grube lag ein Haufen frisch ausgehobener Erde. Tomas nahm die Schaufel zur Hand.
    Teresa erinnerte sich an ihren Traum: Karenin hatte zwei Hörnchen und eine Biene geboren. Dieser Satz klang nun plötzlich wie ein Epitaph. Sie stellte sich vor, daß zwischen diesen beiden Apfelbäumen ein Grabstein stünde mit der Inschrift: Hier ruht Karenin. Er gebar zwei Hörnchen und eine Biene.
    Über dem Garten lag die Dämmerung, der Moment zwischen Tag und Abend, und am Himmel stand blaß der Mond, eine vergessene Lampe in einer Totenkammer.
    Sie hatten beide erdige Schuhe und trugen den Spaten und die Schaufel in den Schuppen, in dem das Werkzeug aufbewahrt wurde: Rechen, Gießkannen, Hacken.
    6.
    Er saß in seinem Zimmer am Tisch, wie immer, wenn er ein Buch las. Wenn Teresa in solchen Momenten auf ihn zutrat, neigte sie sich über ihn und preßte ihr Gesicht von hinten an seine Wange. An diesem Tag bemerkte sie, daß Tomas nicht in ein Buch schaute. Vor ihm lag ein Brief, und obwohl er nur aus fünf maschinegeschriebenen Zeilen bestand, hielt Tomas seinen Blick lange und starr darauf geheftet.
    »Was ist das?« fragte Teresa ängstlich.
    Ohne sich umzudrehen nahm Tomas den Brief und überreichte ihn ihr. Dort stand, er müßte sich noch am selben Tag auf dem Flugplatz der Nachbarstadt einfinden.
    Endlich wandte er ihr den Kopf zu, und Teresa konnte in seinen Augen das gleiche Entsetzen lesen, das sie selbst empfand.
    »Ich gehe mit dir«, sagte sie.
    Er schüttelte den Kopf: »Die Vorladung ist nur an mich gerichtet.«
    »Doch, ich gehe mit dir«, wiederholte sie.
    Sie fuhren in Tomas' Lastwagen weg. Bald darauf befanden sie sich auf dem Flugfeld. Es war neblig. Nur sehr unklar zeichneten sich die Umrisse der Maschinen vor ihnen ab. Sie gingen von einer zur anderen, doch alle Türen waren abgeschlossen. Endlich fanden sie ein Flugzeug mit offener Einstiegstür und bereitgestelltem Rollsteg. Sie stiegen die Stufen hinauf, im Türrahmen erschien ein Steward, der sie aufforderte einzutreten. Die Maschine war klein, für knapp dreißig Passagiere, und vollkommen leer. Sie schritten durch den schmalen Gang zwischen den Sitzen, ohne einander loszulassen, und zeigten kein großes Interesse für das, was um sie herum vorging. Sie setzten sich nebeneinander auf zwei Sitze, und Teresa legte ihren Kopf auf Tomas' Schulter. Das ursprüngliche Entsetzen war verflogen und hatte sich in Trauer verwandelt.
    Entsetzen ist ein Schock, ein Moment vollkommener Blendung. Entsetzen hat keine Spur von Schönheit mehr.
    Man sieht nichts als das grelle Licht eines unbekannten Ereignisses, das einen erwartet. Trauer hingegen setzt Wissen voraus. Tomas und Teresa wußten, was sie erwartete. Das Licht des Entsetzens wurde gedämpft, und die Welt war in zartblauer Beleuchtung zu sehen, welche die Dinge schöner erscheinen ließ, als sie waren.
    In dem Moment, als Teresa den Brief las, empfand sie keine Liebe für Tomas, sie wußte nur, daß sie ihn nicht einen Augenblick allein lassen durfte: das Entsetzen hatte alle anderen Gefühle und Empfindungen erstickt. Nun, da sie an ihn geschmiegt dasaß (das Flugzeug flog durch die Wolken), verging der Schrecken, und sie empfand ihre Liebe und wußte, es war eine
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