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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Autoren: Milan Kundera
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Revolutionären«
    »Er hat sich doch nicht etwa mit diesem Regime abgefunden?«
    »Nein, keineswegs. Er glaubt an Gott und meint, das sei der Schlüssel zu allem. Seiner Meinung nach sollte jeder im täglichen Leben nach den von der Religion geschaffenen Normen leben und das Regime überhaupt nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Es einfach ignorieren. Er sagt, wenn man an Gott glaube, sei man fähig, in jeder beliebigen Situation durch eigenes Handeln das zu schaffen, was er >das Reich Gottes auf Erden< nennt. Er erklärt mir, daß die Kirche in unserem Land die einzige freiwillige Gemeinschaft von Menschen sei, die sich der Kontrolle des Staates entziehe. Es würde mich interessieren, ob er in der Kirche ist, um dem Regime besser zu trotzen, oder ob er wirklich an Gott glaubt.«
    »Frag ihn doch!«
    Tomas fuhr fort: »Ich habe gläubige Menschen immer bewundert. Ich habe gedacht, daß sie eine besondere Gabe übersinnlicher Wahrnehmung besitzen, die mir versagt ist.
    Etwa wie Hellseher. Nun sehe ich aber am Beispiel meines Sohnes, daß Glauben im Grunde genommen etwas sehr Leichtes ist. Als er in Schwierigkeiten war, haben sich die Katholiken seiner angenommen, und auf einmal war der Glaube da. Vielleicht hat er beschlossen, aus Dankbarkeit zu glauben. Menschliche Entscheidungen sind schrecklich einfach.«
    »Du hast ihm nie auf seine Briefe geantwortet?«
    »Er hat mir seine Adresse nicht geschrieben.«
    Doch dann fügte er hinzu: »Auf dem Poststempel steht allerdings der Name des Ortes. Man müßte den Brief nur an die Adresse der dortigen Genossenschaft schicken.«
    Teresa schämte sich vor Tomas für ihre Verdächtigungen und wollte ihre Schuld durch übertriebene Liebenswürdigkeit dem Sohn gegenüber wiedergutmachen: »Warum schreibst du ihm nicht? Warum lädst du ihn nicht ein?«
    »Er sieht mir ähnlich«, sagte Tomas. »Wenn er spricht, zieht er seine Oberlippe krumm, genau wie ich. Meine eigenen Lippen über den Herrgott reden zu sehen, das kommt mir doch etwas zu befremdlich vor.«
    Teresa fing an zu lachen.
    Tomas lachte mit.
    Teresa sagte: »Tomas, sei nicht kindisch. Das ist doch eine alte Geschichte. Du und deine erste Frau. Was geht ihn das an? Was hat er mit dieser Frau zu tun? Warum solltest du jemanden verletzen, nur weil du in jungen Jahren einen schlechten Geschmack hattest?«
    »Ehrlich gesagt, ich habe Lampenfieber. Das ist der eigentliche Grund, warum ich dieser Begegnung ausweichen will. Ich weiß nicht, warum ich so starrsinnig gewesen bin.
    Manchmal entscheidet man sich für etwas, ohne zu wissen, weshalb, und diese Entscheidung entwickelt dann ihre eigene Beharrlichkeit. Es wird von Jahr zu Jahr schwieriger, sie zu ändern.«
    »Lade ihn ein«, sagte sie.
    Als sie am selben Tag aus dem Kuhstall zurückkehrte, hörte sie Stimmen auf der Straße. Als sie näher kam, sah sie Tomas' Lastwagen. Tomas war vornübergebeugt und montierte ein Rad ab. Ein paar Männer standen um das Auto herum, gafften und warteten, daß Tomas mit der Reparatur fertig würde.
    Sie stand da und konnte die Augen nicht abwenden: Tomas sah alt aus. Sein Haar war grau geworden, und die Unbeholfenheit, mit der er sich zu schaffen machte, war nicht die Unbeholfenheit eines Arztes, der Lastwagenfahrer geworden war, sondern die eines Menschen, der nicht mehr jung war.
    Sie erinnerte sich an ein Gespräch, das sie kürzlich mit dem Vorsitzenden geführt hatte. Er hatte ihr gesagt, Tomas' Lastwagen sei in einem miserablen Zustand. Er sagte es im Spaß, ohne Vorwurf, aber er machte sich Sorgen. »Tomas kennt sich im Inneren eines  Menschenkörpers besser aus, als im Inneren eines Motors«, lachte er. Dann gestand er ihr, wiederholt bei den Behörden gefordert zu haben, daß Tomas im hiesigen Bezirk wieder als Arzt praktizieren dürfte. Er hatte sich jedoch sagen lassen müssen, daß die Polizei dies niemals erlauben würde.
    Sie versteckte sich hinter einem Baumstamm, damit die Leute rund um das Auto sie nicht sehen konnten, aber sie ließ Tomas nicht aus den Augen. Ihr Herz schnürte sich zusammen vor Vorwürfen. Ihretwegen war er von Zürich nach Prag zurückgekehrt. Ihretwegen hatte er Prag verlassen.
    Und nicht einmal hier hatte sie ihn in Ruhe gelassen und ihn sogar vor dem sterbenden Karenin mit ihren unausgesprochenen Verdächtigungen geplagt.
    Im Geiste hatte sie ihm immer vorgeworfen, daß er sie nicht genügend liebte. Ihre eigene Liebe hatte sie als etwas betrachtet, das sich über alle Zweifel erhob, seine Liebe
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