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Mord in Londinium

Titel: Mord in Londinium
Autoren: Lindsey Davis
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I
     
     
     
    »Das hängt davon ab, was wir unter Zivilisation verstehen«, sinnierte der Prokurator.
    Angesichts der Leiche war ich nicht in Stimmung für philosophische Diskussionen. Wir befanden uns in Britannien, wo die Armee das Gesetz vertrat. So weit von Rom entfernt funktionierte das Gesetz nach Faustregeln, aber hier bedeuteten die besonderen Umstände, dass sich dieser Mord nur schwer beiseite wischen ließ.
    Wir waren vom Zenturio eines kleinen örtlichen Militärtrupps gerufen worden. Die Anwesenheit des Militärs in Londinium diente hauptsächlich dazu, den Statthalter Julius Frontinus und seinen Stellvertreter, den Prokurator Hilaris, zu schützen, aber da die Provinzen nicht mit Vigiles bemannt sind, müssen die Soldaten für Ruhe und Ordnung sorgen. Also begab sich der Zenturio an den Tatort, wo er zu einem sehr besorgten Mann wurde. Bei genauerer Betrachtung nahm ein anscheinend lokales Routineverbrechen eine ganz andere »Entwicklung« an.
    Der Zenturio berichtete uns, er sei in die Schenke gekommen und habe nur eine normale Messerstecherei oder Prügelei erwartet. Einen Ertrunkenen mit dem Kopf voran in einem Brunnen zu finden war etwas ungewöhnlich, vielleicht sogar aufregend. Der »Brunnen« war ein tiefes Loch in einer Ecke des kleinen Hinterhofs der Schenke. Hilaris und ich beugten uns vor und schauten hinein. Das Loch war mit den wasserfesten Dauben eines massiven germanischen Weinfasses ausgekleidet; das Wasser stand fast bis zum Rand. Hilaris teilte mir mit, dass diese importierten Fässer größer als ein Mensch waren, und nachdem der Wein geleert war, wurden sie oft auf diese Weise weiterverwendet.
    Als wir ankamen, war die Leiche natürlich schon entfernt worden. Der Zenturio hatte das Opfer an den Stiefeln herausgezogen und vorgehabt, den Kadaver in eine Ecke zu hieven, bis der örtliche Dungkarren ihn abtransportierte. Des Weiteren hatte er vorgehabt, sich mit einem Becher Wein auf Kosten des Hauses hinzusetzen, während er die Attraktionen der Schankkellnerin beäugte.
    Doch da gab es nicht viel Attraktives zu beäugen. Nicht nach aventinischen Maßstäben. Das hängt davon ab, was wir unter attraktiv verstehen, hätte Hilaris sinnieren können, wenn er der Typ dazu gewesen wäre, Kommentare über Kellnerinnen abzugeben. Ich wiederum war der Typ dazu, und sobald wir die schummrige Kaschemme betraten, bemerkte ich, dass die fesche Maid vier Fuß groß war, lüstern schielte und wie alte Stiefelsohlen stank. Sie war zu stämmig, zu hässlich und zu schwer von Begriff für mich. Aber ich stamme aus Rom. Ich lege hohe Maßstäbe an. Das hier war Britannien, erinnerte ich mich.
    Jetzt, wo Hilaris und ich vor Ort waren, bestand für niemanden mehr die Chance, umsonst etwas zu trinken zu bekommen. Wir waren Offizielle. Ich meine echte Offizielle. Einer von uns war von verdammt hohem Rang. Ich nicht. Ich war nur ein neuer Emporkömmling im mittleren Rang. Jeder mit Geschmack und Stil hätte sofort mein plebejisches Herkommen gerochen.
    »Ich würde die Schenke meiden«, witzelte ich leise. »Wenn in deren Wasser Tote schwimmen, dann ist der Wein garantiert verdorben.«
    »Ich werde ihn jedenfalls nicht probieren«, stimmte Hilaris mit taktvollem Unterton zu. »Wir wissen ja nicht, was die so in ihre Amphoren stopfen …«
    Der Zenturio starrte uns an, zeigte seine Verachtung für unsere Art von Humor.
    Die Sache kam für mich noch ungelegener als für den Soldaten. Er musste sich nur Sorgen darüber machen, ob er die unangenehmen »Entwicklungen« in seinem Bericht erwähnen sollte. Ich musste entscheiden, ob ich Gaius Flavius Hilaris – dem Onkel meiner Frau – erzählen sollte, dass ich wusste, wer der Tote war. Und davor musste ich noch einschätzen, ob Hilaris selbst die Leiche im Fass gekannt hatte.
    Hilaris war hier der Wichtige. Er war Prokurator der Finanzen in Britannien. Um die Sache ins rechte Licht zu rücken: Ich war ebenfalls Prokurator, aber meine Rolle – die theoretisch mit der Aufsicht über die Heiligen Gänse der Juno zu tun hatte – war eine der hunderttausend bedeutungslosen Ehren, die der Kaiser vergab, wenn er jemandem einen Gefallen schuldig und zu geizig war, ihn bar zu bezahlen. Vespasian war der Meinung, meine Dienste hätten genug gekostet, also beglich er verbliebene Schulden mit einem Witz. Das war ich: Marcus Didius Falco, der kaiserliche Possenreißer. Wohingegen der ehrenwerte Gaius Flavius Hilaris, dessen Bekanntschaft mit Vespasian aus ihrer lange
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