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Im Zeichen des himmlischen Baeren

Titel: Im Zeichen des himmlischen Baeren
Autoren: Federica de Cesco
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    D ie Fänge des Adlers umklammerten die Querstange der Standarte, an die er mit einer Eisenkette gefesselt war. Wenn er die Schwingen ausbreitete und sein Gleichgewicht verlagerte, sah ich, wie der Standartenträger seine Muskeln spannte. Der Adler war so schwer, dass der Mann, der dicht hinter dem König ritt, regelmäßig abgelöst werden musste. Es war eine besondere Ehre, die königliche Standarte zu tragen; nur verdienstvolle Krieger wurden für dieses Amt ausgewählt. Der Adler hieß Kana, der »Goldene Bote«. Er war gut abgerichtet, aber trotzdem noch gefährlich. Sein Flügelschlag konnte einen Menschen zu Boden reißen. Der Adler galt als Sinnbild der königlichen Macht, doch seine Funktion war nicht nur symbolisch: Die Tungusen benutzten ihn, um im Krieg den Feind aufzuspüren. Wenn der Adler nichts unter sich erblickte, flog er geradeaus mit regelmäßigen Bewegungen. Jagte er, glitt er unruhig hin und her. Hatte er seine Beute gesichtet, zog er immer engere und tiefere Kreise. Doch wenn er Menschen erspähte, schwebte er hoch empor und stand in der Luft still.
    Kana war seinem Wärter treu ergeben: Stets kehrte er von seinen Erkundungsflügen zu den Menschen zurück, die ihn mit frischem Fleisch versorgten. Ich hatte mich an seine Anwesenheit gewöhnt, doch hütete ich mich, in seine Nähe zu geraten.
    Das dichte, federnde Moos dämpfte das Geräusch der unzähligen Hufe. Man vernahm nur das Klirren der Harnische, das Knicken der Zweige, wenn sich die Pferde durch das Dickicht kämpften. Das Heer ritt um einen bewaldeten Höhenrücken. Die Männer blickten hochmütig ins silbrige Sonnenlicht. Ihre Schuppenrüstungen leuchteten, die quastenbesetzten Lanzen federten und glitzerten. Sie trugen mit Leder eingefasste Bronzehelme. Ihre Pluderhosen ließen ihre Taille, vom Schwertgurt umschlossen, noch schmaler erscheinen.
    Die Standarten flatterten im Wind. Die Wappen der Gefechtskommandanten trugen die Abbildungen der fünf heiligen Tiere: Adler, Drache, Phönix, Schildkröte und Tiger. Auf der königlichen Standarte waren die Sonne und der Mond dargestellt, denn so wie diese Himmelskörper ihr Licht bei Tag und Nacht über die Welt verbreiten, so erhaben leuchtete der Herrscher über sein Volk.
    Es war Sommer und sehr heiß. Die Luft war angefüllt vom Duft der Blumen und des Harzes, dem Geruch geölten Leders, den scharfen Schweißausdünstungen von Menschen und Tieren. Der Wind wehte vom Meer und verursachte einen Salzgeschmack auf der Zunge. Ich ritt neben König Iri, meinem Gemahl. Es war sein Wunsch gewesen, dass ich ihn auf diesem Feldzug begleitete. Als Tochter der Sonnenkönigin von Yamatai stand ich in hohem Ansehen: Es fiel mir leicht, das Vertrauen unserer Lehnsherren zu gewinnen, die uns ihre Krieger zur Verfügung stellten.
    Fünf Jahre waren verstrichen, seit die Heilige Insel, auf der meine Mutter, Königin Himiko, ihre letzte Ruhestätte gefunden hatte, im Ozean versunken war. Eine gewaltige Springflut hatte die Bucht überschwemmt und unsere Hauptstadt Amôda bis in die Grundfesten zerstört. Durch Vorzeichen gewarnt, war es mir gelungen, das Volk in den Bergen in Sicherheit zu bringen. Nachdem der Zorn des Himmels und der des Meeres sich gelegt hatten und die Wassermassen zurückgeströmt waren, konnten wir an unsere einstige Wohnstätte zurückkehren. Die Stadt wurde wiederaufgebaut; ein neuer Palast wurde errichtet. Es war eine mächtige Festung, deren Prunk mich erdrückte.
    Dem Orakel zufolge hatte ich den Tungusenfürsten Iri als Gatten erwählt. Er hatte seine Heimat Kara 1 verlassen und seinen Herrschersitz nach Amôda verlegt, wo er unter dem Titel »Sujin« - Allerhöchste Majestät - über unsere vereinigten Reiche regierte.
    Die tragischen Ereignisse, die den Tod meiner Mutter herbeigeführt hatten, waren noch allgegenwärtig in mir. Noch immer zwang ich mich, die Erinnerungen aus meinem Bewusstsein zu bannen. Ich war noch nicht bereit, mir Rechenschaft abzulegen, denn ich wusste, dass nur die Zeit die Wunden der Vergangenheit mildern konnte.
    Als Sonnenpriesterin hatte ich mich dem Dienst der Göttin Amaterasu, dem Quell allen Lebens, verschrieben. Doch aus Furcht, daran zu zerbrechen, hatte ich meine hellseherischen Fähigkeiten aus dem Bewusstsein verdrängt. Ich verbrachte viel Zeit im Heiligtum von Sugati, wo ich die
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