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Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling

Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling

Titel: Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling
Autoren: Alex Capus
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1
    Das ist die wahre Geschichte der Bankräuber Kurt Sandweg und Waldemar Velte, die im Winter 1933/34 den Seeweg von Wuppertal nach Indien suchten. Sie kamen nur bis Basel, verliebten sich in eine Schallplattenverkäuferin und kauften jeden Tag eine Tango-Platte. Meine Großmutter mütterlicherseits ist zweimal mit ihnen spazierengegangen. Mein Großvater wäre beinahe auf offenem Feld von einer Hundertschaft Polizisten erschossen worden, weil er einem der Räuber ein wenig ähnlich sah.
     
    *
     
    Auf dem Basler Marktplatz steht ein Kaufhaus, das hat eine prächtige Jugendstilfassade und heißt Globus. Es ist Mittag, der dreizehnte Dezember 1933. Im Personalerfrischungsraum im Dachgeschoss sitzen die Verkäuferinnen an groben Fichtenholztischen und essen Brote, die sie von zu Hause mitgebracht haben. Vorne sitzen die Festangestellten in weißen Röcken; die Aushilfsverkäuferinnen tragen blaue Röcke und sitzen am hintersten Tisch. Wie in jeder Mittagspause stecken sie von der ersten bis zur letzten Sekunde die Köpfe zusammen und zanken.
    »Wisst ihr, wen die Direktion diese Woche zum Fräulein Freundlich gewählt hat? Die Vollmeier Olga!«
    »Was, die Vollmeier? Das Kartoffelgesicht?«
    »Die mit der Papageiennase?«
    »Mit der Affenfrisur?«
    »Die soll Fräulein Freundlich sein?«
    »Ich habe gehört, dass sie mit dem Reklamechef ins Kino geht.«
    »Mit dem Abteilungsleiter!«
    »Dem Reklamechef!«
    »Dem Abteilungsleiter!«
    »Ach, Fräulein Freundlich! Bis an Weihnachten draußen auf dem Marktplatz stehen in diesem blöden Kostüm, tausend klebrige Kinderhände schütteln und Nüsse und Lebkuchen verteilen – wer will das schon?«
    »Es gibt halt Gratifikation.«
    »Wenn man dafür mit dem Reklamechef ins Kino muss!«
    »Du würdest ja noch so gern …«
    »Ich …?«
    »Mit dem Abteilungsleiter!«
    »Dem Reklamechef!«
    »Oder sonst wohin!«
    »Wohin?«
    »Also ich jedenfalls …«
    »Habt ihr gehört? Im Kaufhaus Rheinbrücke haben sie den Sankt Nikolaus gleich mit dem Doppeldecker eingeflogen!«
    »Wen würdest du denn als Fräulein Freundlich wählen?«
    »Vor dir haben die Männer Angst.«
    »Vor dir haben sie keine Angst, das weiß man.«
    »Du, wenn du jetzt nicht sofort …«
    »Sag doch, wen würdest du wählen?«
    »Ich würde – Dorly wählen!«
    Jubel.
    »Dorly! Dorly! Du bist unser Fräulein Freundlich!«
    Von links und rechts umarmen die Mädchen die großgewachsene junge Frau mit dem kurzen, dunklen Haar, die dem Disput still gefolgt ist. Dorly Schupp wehrt sich unter Einsatz der Ellbogen gegen die falschen Zärtlichkeiten. Sie verzieht das Gesicht und wirft einen bösen Blick über den Tisch zu dem blondbezopften Bauernmädchen, das das Spektakel mit spöttisch vorgeschobener Unterlippe beobachtet; denn das Bauernmädchen ist es, das den Streit vom Zaun gebrochen hat, und es ist es auch, das Dorlys Namen ins Spiel gebracht hat – aus Berechnung, weil es selbst in die Defensive geraten war und sich aus der Schusslinie nehmen musste. Die Rechnung ist aufgegangen.
    »Hört auf! Jetzt lasst mich!« Dorly befreit sich aus den Umarmungen und steht auf. In der Aufregung stehen links und rechts ein paar Mädchen mit ihr auf. Dorly ist einen halben Kopf größer als die anderen, auch schlanker und kräftiger; wenn es zum Kampf käme, würde sie es wohl mit allen gleichzeitig aufnehmen. »Die war eine richtige Amazone«, sollte meine Großmutter in späteren Jahren sagen. »Die hätte einen Panther mit bloßen Händen erwürgt.«
    Dorly streicht sich übers Haar und rückt ihren weißen Kragen zurecht. »Ich muss zum Mittagsdienst.« Sie läuft hinunter in die Schallplattenabteilung, um ihre Vorgesetzte, die Erste Verkäuferin, abzulösen. Mittags gibt es hier wenig Kundschaft. Dorly legt einen Tango auf und staubt Regale ab. Sie genießt das Alleinsein. Noch immer ist ihr heiß von den Händen ihrer Kolleginnen und von deren Geschwätz. Dieses ständige Geschwätz! Jeden Mittag muss unbedingt ein Skandal losbrechen, und dann sind sie alle empört – eine empörter als die andere, ein richtiger Wettstreit, denn der Grad der Empörung gilt als Maß für die eigene Rechtschaffenheit. Je empörter, desto ehrbarer.
    Ein Glockenschlag, die rote Lifttür geht auf. Kundschaft. Dorly dreht sich um, den Staubwedel in der Hand. Zwei junge Männer. Gutangezogene junge Männer in Knickerbockers, teuren Tweedmänteln und mit nach hinten gekämmten Haaren. Das Grammophon spielt weiter Tango. Jung sind die
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