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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Autoren: Milan Kundera
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hatte, als sie unangemeldet nach Prag gekommen war. Er schlug vor, den Hund Tolstoi zu nennen.
    »Tolstoi, das geht nicht«, wandte Teresa ein. »Es ist doch ein Mädchen. Vielleicht Anna Karenina.«
    »Anna Karenina geht nicht, weil keine Frau eine so drollige Schnauze hat«, sagte Tomas. »Schon eher Karenin. Klar, Karenin. Genau so habe ich ihn mir immer vorgestellt.«
    »Wird das ihre sexuelle Entwicklung nicht stören, wenn man sie Karenin nennt?«
    »Schon möglich«, sagte Tomas, »daß ein Weibchen, das von seinem Herrn ständig als Männchen angeredet wird, lesbische Tendenzen entwickelt.«
    Seltsamerweise gingen Tomas' Worte in Erfüllung. Obwohl Hundeweibchen in der Regel eher an ihrem Herrn hängen, war es bei Karenin gerade umgekehrt. Die Hündin beschloß, sich in Teresa zu verlieben. Tomas war ihr dankbar dafür. Er streichelte ihr den Kopf und sagte: »Gut so, Karenin. Genau das habe ich von dir erwartet. Wenn ich es nicht allein schaffe, mußt du mir helfen.«
    Aber auch mit Karenins Hilfe gelang es ihm nicht, Teresa glücklich zu machen. Das wurde ihm ungefähr zwei Wochen nach der Besetzung seines Landes durch die russischen Panzer klar. Es war im August 1968. Der Chefarzt eines Zürcher Spitals, den er auf einem internationalen Kongreß kennengelernt hatte, telefonierte damals täglich mit ihm. Er hatte Angst um Tomas und bot ihm eine Stelle an.
    12.
    Wenn Tomas das Schweizer Angebot ohne lange Überlegungen ausschlug, dann Teresas wegen. Für ihn stand fest, daß sie nicht wegziehen wollte. Sie verbrachte die erste Woche der Okkupation in einer Art Trance, die Ähnlichkeit hatte mit einem Glückszustand. Sie lief mit dem Fotoapparat durch die Straßen und verteilte ihre Aufnahmen an ausländische Journalisten, die sich darum rissen. Als sie einmal zu kühn vorgegangen war und einen Offizier aus der Nähe fotografiert hatte, der mit seinem Revolver auf Demonstranten zielte, wurde sie verhaftet und mußte die Nacht auf dem russischen Hauptquartier verbringen. Man drohte ihr mit Erschießung, ließ sie dann aber frei, und sie ging gleich wieder auf die Straße, um zu fotografieren.
    Deshalb war Tomas erstaunt, als sie am zehnten Tag der Okkupation sagte: »Warum willst du eigentlich nicht in die Schweiz?«
    »Und warum sollte ich?«
    »Hier haben sie mit dir eine Rechnung zu begleichen.«
    »Mit wem haben sie das nicht?« winkte Tomas ab. »Sag du mir lieber: könntest du im Ausland leben?«
    »Und warum nicht?«
    »Nachdem ich gesehen habe, daß du bereit warst, dein Leben für dieses Land zu opfern, frage ich mich, wie es möglich ist, daß du es nun verlassen kannst.«
    »Seit Dubcek zurückgekommen ist, hat sich alles geändert«, sagte Teresa.
    Das stimmte: die allgemeine Euphorie hatte nur die ersten sieben Tage der Besetzung angehalten. Die Repräsentanten des Landes waren von der russischen Armee wie Verbrecher verschleppt worden, niemand wußte, wo sie waren, alle Welt zitterte um ihr Leben, und der Haß auf die Russen berauschte die Menschen. Es war ein trunkenes Fest des Hasses. Die tschechischen Städte waren mit Tausenden von handgemalten Plakaten übersät: höhnische Aufschriften, Epigramme, Gedichte, Karikaturen von Breschnew und seiner Armee, über die alle lachten wie über einen Zirkus von Analphabeten. Doch kein Fest kann ewig dauern. Inzwischen hatten die Russen die verhafteten Repräsentanten gezwungen, in Moskau einen Kompromiß zu unterzeichnen. Dubcek kehrte mit diesem Dokument nach Prag zurück und verlas seine Rede im Radio. Die sechstägige Gefangenschaft hatte ihn so zugerichtet, daß er kaum noch sprechen konnte, er stotterte und rang nach Atem, so daß zwischen den Sätzen unendlich lange Pausen entstanden, die bis zu einer halben Minute dauerten.
    Der Kompromiß bewahrte das Land vor dem Schlimmsten: vor Hinrichtungen und Massendeportationen nach Sibirien, vor denen alle entsetzliche Angst hatten. Eines aber war sofort klar: das Land würde sich vor seinem Eroberer beugen müssen und für immer stottern und nach Luft ringen wie Alexandr Dubcek. Das Fest war vorbei. Es folgte der Alltag der Erniedrigung.
    Das alles sagte Teresa zu Tomas, und er wußte, daß es die Wahrheit war, daß sich aber hinter dieser Wahrheit noch ein anderer, triftigerer Grund verbarg, aus dem Teresa Prag verlassen wollte: in ihrem bisherigen Leben war sie nicht glücklich gewesen.
    Die schönsten Tage ihres Lebens hatte sie in den Straßen von Prag zugebracht, als sie russische Panzer
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