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Benjamin Rootkin - Zeiten voller Zauber, eine Weihnachtsgeschichte

Benjamin Rootkin - Zeiten voller Zauber, eine Weihnachtsgeschichte

Titel: Benjamin Rootkin - Zeiten voller Zauber, eine Weihnachtsgeschichte
Autoren: Rainer Wekwerth
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Kapitel 1
     
    Die dicken Schneeflocken fielen langsam, fast bedächtig vom Himmel und gaben der Landschaft ein verzaubert wirkendes Aussehen. Auf den Dächern und Fensterrahmen sammelte sich das Weiß und ließ die Häuser wie gigantisches Lebkuchenwerk erscheinen.
    Rauch in dunklen Schwaden kroch träge aus den Ziegelkaminen, bevor auch er sich im überirdischen Nichts auflöste.
    Benjamin zog den Ärmel seines Pullovers lang und wischte damit über die Innenseite des Fensters. Die Wärme des Raumes hatte die Scheiben beschlagen lassen, und Ben machte sich ein Guckloch, durch das er die Straße beobachten konnte.
    Es war 9.Dezember des Jahres 1896, und Benjamin hatte Geburtstag. Heute wurde er elf Jahre alt. Im Gegensatz zu anderen Kindern, die ihren persönlichen Feiertag kaum erwarten konnten, stimmte es Benjamin traurig, dass schon wieder ein Jahr vergangen war.
    Draußen vor dem Fenster des Waisenhauses zog eine einspännige Kutsche tiefe Spuren in den frisch gefallenen Schnee, und der Junge erkannte die hagere Gestalt von Mr.Stendal, die gebeugt und dick eingemummt auf dem Kutschbock saß.
    Obwohl Benjamin sich im zweiten Stock des roten Ziegelsteinbaus befand, in dem er und noch sechsundzwanzig andere Jungen untergebracht waren, konnte er die tiefe, gutmütige Stimme des alten Mannes hören, wie er sein Pferd Lotte antrieb.
    „Heja, Lotte! Lauf, Lotte! Heja!“, klang es herauf.
    Ben winkte dem Kutscher zu, aber wegen des dicht fallenden Schnees erkannte ihn Mr.Stendal nicht. Deprimiert ließ er die Hand sinken. Wenn er einen Freund in dieser Welt hatte, dann war es der alte Kutschführer. Gutgelaunt und stets mit einem freundlichen Wort ließ er den Jungen, allerdings nur, wenn er keine Fahrgäste hatte, auf dem Kutschbock mitfahren, und manchmal, wenn den guten Mr.Stendal die Arthritis nicht gar so arg plagte, und er deswegen noch besser aufgelegt war als sonst, durfte Benjamin die Zügel in die Hand nehmen und den Einspänner lenken. Dann war es seine noch zarte Stimme, die hell durch die Gassen klang und die Kommandos rief: „Heja, Lotte! Lauf, Lotte! Heja!“
    Und jedes Mal erschien es dem Jungen, als würde das Pferd den Rücken strecken und im Lauf weiter ausholen.
    Solche Tage waren selten, aber sie waren vollkommen in ihrer klaren Schönheit, und Ben hoffte, dass er, wenn er einmal alt genug sein würde, ebenfalls Kutscher werden konnte.
    Unten bog Mr.Stendal nun vorsichtig in die King-George-Street ein und wurde vom Weiß des Winters verschluckt. Benjamin reckte noch den Kopf, presste das Gesicht gegen die feuchte Scheibe, aber die Kutsche verschwand aus seinem Sichtfeld.
    Hinter ihm knarrte die große Tür, die in den Schlafsaal führte, und Ben erkannte an den schweren Schritten, dass sich Father Duncan näherte.
    „Da bist du also! Ich habe dich schon gesucht!“, erklang es fröhlich in seinem Rücken.
    Benjamin wandte sich um und sah zu dem gutmütigen, Frieden ausstrahlenden Gesicht hoch, das sich über ihn beugte. Die Kutte des Paters war mit Holzstaub bedeckt, und über die gefurchte Stirn rann Schweiß, dem der Geistliche vergeblich mit einem zerschlissenen Taschentuch Einhalt gebieten wollte. Offensichtlich war Father Duncan in der Werkstatt gewesen, denn die Flecken und die Tatsache, dass er schwitzte, sprachen eine deutliche Sprache.
    „Hast du geweint, Ben?“, fragte der Pater vorsichtig. Er hatte die Feuchtigkeit auf den Wangen gesehen, die Zeichen aber falsch gedeutet.
    „Nein, Father.“
    „Aber besonders fröhlich siehst du nicht aus.“
    Ben antwortete nicht, sondern blickte wieder durch die Fensterscheibe. Der Schneefall hatte nachgelassen, und fern am Horizont schimmerten die ersten goldenen Strahlen der Wintersonne. Ihr Licht ließ ein tausendfaches Funkeln auf der Schneedecke entstehen, und es sah aus, als hätte Gott statt Schneeflocken Diamanten vom Himmel fallen lassen.
    „Wunderschön, nicht wahr?“, meinte der Pater verträumt, als er durch das gleiche Guckloch wie Ben blickte.
    Ihre beiden Gesichter berührten sich beinahe. Ben bemerkte aus dem Augenwinkel, dass der Anstaltsleiter vergessen hatte, sich zu rasieren. Schwarzes Barthaar, durchsetzt mit Grau, spross an seinem Kinn und gab ihm das Aussehen einer rosafarbenen Stachelbeere. Aber Ben war heute nicht nach Lachen zumute, also schob er diesen Gedanken beiseite.
    „Du hast heute Geburtstag, warum kommst du nicht mit mir zu den anderen und wir feiern ein wenig“, schlug Father Duncan vor.
    „Lieber nicht.
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