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Evgenia Ivanovna

Evgenia Ivanovna

Titel: Evgenia Ivanovna
Autoren: Leonid Leonow
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    Spätabends kamen sie in Zinandali an. Vorn, zwischen den Bäumen, schimmerte ungewiß eine Mauer hervor. Der Wagen kläffte ins Dunkel und wippte auf der Hinterachse. Während sich Stratonow die Pfeife ansteckte, musterte Evgenia Ivanovna ihren Mann. Der Engländer duselte, im Sitz zurückgesunken. Der Hut saß ihm flott auf dem Ohr, die zerbissenen Lippen klebten aufeinander. Ein neuer Anfall begann.
    Stratonow selber drückte die Ballonhupe. Hoffnungslos verzitterte der Ton in der provinziellen Stille. Das Alasan-Tal schlief einen märchenhaften Schlaf, allenfalls ein Erdbeben hätte es wecken können. In dieser Einöde hatte der Name Intourist alle magische Wirkung verloren, niemand kam die Koffer holen.
    »Rühren Sie sich gefälligst, Kazo, sonst fliegen Sie«, fauchte Stratonow den Fahrer an. »Los, klopfen Sie, zum Kuckuck! Nur zu, Ihren verdammten Bück klaut schon keiner.«
    Der eiferte in seinem gebrochenen Russisch dagegen. Wer, wenn nicht Stratonow, Angestellter des Reisebüros, habe sich denn um die ausländischen Herrschaften zu kümmern? Nochmals drohte der andere, stieß dabei die Namen dreier Kaukasusgrößen aus, und der Fahrer, grusinisch vor sich hin fluchend, trottete zum Tor und donnerte dagegen.
    Evgenia Ivanovna fühlte sich nicht nach der ungewohnten Bergfahrt. An der schäumenden Jora, als sie die Furt suchten, war ihr zum Heulen gewesen, und auf der Paßhöhe von Telawi war sie einen halben Kilometer zu Fuß gelaufen. Wieder wollte sie frische Luft schöpfen und allein sein.
    »Mich hat die Fahrt etwas mitgenommen, rufen Sie, wenn die Sachen geholt werden«, sagte Evgenia Ivanovna beim Aussteigen. »Außerdem möchte ich Sie bitten, lassen Sie den Wagenschlag offen, Herr Stratonow. Mein Mann verträgt gewisse Tabaksorten absolut nicht.«
    Von den Höhen strömte hier das kühle Bitter von Herbstgräsern und Hirtenfeuern zusammen. Über sich ahnte man schweres nachtfeuchtes Laub. Finsternis umfing es wie vorm ersten Schöpfungstag. Indem sie auf die Geräusche im Rücken horchte, strebte Evgenia Ivanovna tiefer in den Park hinein.
    Hinter ihr knirschte der Kies unter behutsamen Schritten.
    »Sie haben einen untrüglichen Ortssinn, Mrs. Pickering«, sagte Stratonow auf französisch, und so klang seine so beklemmend vertraute Stimme wie durch eine Maske. »Hier im Gesträuch liegt eine sehr intime Dichterweihestätte verborgen. Wir besichtigen sie morgen. Aus verschiedenen Gründen möchte ich abraten, sie im Dunkeln zu besuchen. Überdies fällt das Zinandali-Plateau hier ziemlich steil ab, und der Zauber unsres Spaziergangs könnte leicht getrübt werden.«
    Er bediente sich beharrlich des Französischen und ließ so durchblicken, daß es unter den gegebenen Umständen das beste sei, weiterhin die Unbekannten zu spielen. Seit Tiflis hatte er ihr auf ähnliche Art öfters bedeutet, sie möge ihre frühere Bekanntschaft und die alte leidige Geschichte vergessen. Seiner glatten Höflichkeit merkte sie an, daß ihn das Gewissen kaum quälte, eher war ihm seine Handlungsweise peinlich, wobei sie ihm getrost hätte etwas peinlicher sein können.
     
    Er war ihre erste Liebe gewesen. Und begonnen hatte es um die Weihnachtszeit in einem stillen Steppenstädtchen. Stratonow trat bei seiner Mutter, einer Beamtenfrau, einen Genesungsurlaub an. Aus dem Lazarett kam er just zurecht zu einem Gymnasiastenball. Der Leutnant tanzte, den Arm in der Schlinge, und die Provinzbackfische hingen an ihm mit verzückten Blicken. Außer einer. Aus Eitelkeit ließ sich der junge Offizier aus Adlerhöhen hinab zu dem renitenten Geschöpf im braunen Kleidchen mit Spitzenpelerine. Es gab eine Akazienallee in der Stadt, Prospekt der verliebten Seelen genannt. Durch schaurige Friedhofspracht führte sie in mondscheinblaue Steppe, winters wie sommers gleich faszinierend. Den jungen Leutchen wollte es gar nicht in den Kopf, daß ihre Familien nicht längst Freundschaft pflegten, wo man doch schräg gegenüber im selben Gäßchen wohnte. Bis zur Februarrevolution suchten Beamtenfrau und Heilgehilfenwitwe das Versäumte durch wechselseitige Besuche und Gefälligkeiten nachzuholen. Vor der Abreise zur Truppe, beim Plinsenessen in der Butterwoche, rezitierte der Leutnant nach damaligem Brauch halb singend ein selbstverfaßtes Gedicht, in dem er den Wunsch bekundete, ein bewußtes Mädchen möge ihn fortan mit ihrer Augen Glanz zum Zweikampf mit den Feinden des neuen Lebens beseelen. Die Mütter wechselten einen Blick,
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