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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Autoren: Milan Kundera
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genauso wie die lebendigen Frauen, die ihr früher schadenfroh gesagt hatten, es sei ganz normal, daß sie schlechte Zähne, kranke Eierstöcke und Runzeln bekommen würde, weil sie selbst auch schlechte Zähne, kranke Eierstöcke und Runzeln hätten. Mit demselben Lachen erklärten sie ihr nun, daß sie tot sei und dies auch seine Ordnung habe!
    Dann mußte sie plötzlich pinkeln. Sie schrie: »Aber jetzt muß ich pinkeln! Das ist der Beweis, daß ich nicht tot bin!«
    Wieder brachen die Frauen in Lachen aus: »Das ist ganz normal, daß du pinkeln mußt! Solche Bedürfnisse hat man noch lange. Wie jemand, dem man eine Hand amputiert hat: er fühlt sie auch noch lange Zeit. Wir haben keinen Urin mehr und meinen noch immer, wir müßten pissen!«
    Teresa schmiegte sich im Bett an Tomas: »Und alle haben mich geduzt, als würden sie mich schon immer kennen, als wären sie Freundinnen, und ich war entsetzt, daß ich für immer bei ihnen bleiben mußte!«
    9.
    Alle aus dem Lateinischen hervorgegangenen Sprachen bilden das Wort Mitgefühl aus der Vorsilbe com- und dem Wort, das ursprünglich >Leiden< bedeutete: passio. Andere Sprachen, so das Tschechische, das Polnische und das Schwedische, drücken diesen Begriff durch ein Substantiv aus, das aus der Vorsilbe Mit- und dem Wort >Gefühl< besteht (tschechisch sou-cit, polnisch wspol-uczucie, schwedisch medkansia).
    In den aus dem Lateinischen hervorgegangenen Sprachen bedeutet das Wort compassio: wir können nicht herzlos den Leiden eines anderen zuschauen; oder: wir nehmen Anteil am Leid des anderen. Aus einem anderen Wort mit ungefähr derselben Bedeutung (französisch pitie, englisch pity, italienisch pieta usw.) schwingt sogar unterschwellig so etwas wie Nachsicht dem Leidenden gegenüber mit: »Avoir de la pitie pour une femme« heißt, daß wir besser dran sind als diese Frau, uns zu ihr  hinabneigen, uns herablassen.
    Aus diesem Grund erweckt das Wort Mitleid Mißtrauen: es bezeichnet ein schlechtes Gefühl, das als zweitrangig empfunden wird und nicht viel mit Liebe zu tun hat. Jemanden aus Mitleid zu lieben heißt, ihn nicht wirklich zu lieben.
    In den Sprachen, die das Wort nicht aus der Wurzel >Leiden<, sondern aus dem Substantiv >Gefühl< bilden, wird es ungefähr in demselben Sinn gebraucht; man kann aber nicht behaupten, es bezeichne ein zweitrangiges, schlechtes Gefühl. Die geheime Macht seiner Etymologie läßt das Wort in einem anderen Licht erscheinen, gibt ihm eine umfassendere Bedeutung: Mit-Gefühl haben bedeutet, das Unglück des anderen mitzuerleben, genausogut aber jedes andere Gefühl mitempfinden zu können: Freude, Angst, Glück und Schmerz. Dieses Mitgefühl (im Sinne von soucit, wspoluczucie, medkansia) bezeichnet also den höchsten Grad der gefühlsmäßigen Vorstellungskraft, die Kunst der Gefühlstelepathie; in der Hierarchie der Gefühle ist es das höchste aller Gefühle.
    Als Teresa träumte, sie stieße sich Nadeln unter die Fingernägel, verriet sie damit, daß sie heimlich Tomas' Schubladen durchwühlt hatte. Hätte eine andere Frau ihm das angetan, er hätte kein Wort mehr mit ihr gesprochen. Teresa wußte das, und deshalb sagte sie: »Wirf mich raus!« Er aber warf sie nicht hinaus, sondern nahm sogar ihre Hände und küßte ihr die Fingerspitzen, denn er spürte in jenem Augenblick selbst den Schmerz unter ihren Fingernägeln, als wären die Nerven ihrer Finger direkt mit seinem Gehirn verbunden.
    Wer die teuflische Gabe des Mitgefühls nicht besitzt, der kann Teresas Verhalten nur kaltblütig verurteilen, denn die Privatsphäre des anderen ist heilig. Schubladen mit persönlicher Korrespondenz öffnet man nicht. Da aber das  Mitgefühl für Tomas zum Schicksal (oder zum Fluch) geworden war, kam es ihm vor, als kniete er selbst vor der geöffneten Schublade seines Schreibtisches und könnte die Augen nicht losreißen von Sabinas Sätzen. Er verstand Teresa und war nicht nur unfähig, ihr böse zu sein, sondern er liebte sie noch viel mehr.
    10.
    Ihre Gesten waren brüsk und fahrig geworden. Zwei Jahre war es nun schon her, daß sie seine Treulosigkeit entdeckt hatte, und es wurde immer schlimmer. Es gab einfach keinen Ausweg.
    Konnte er denn tatsächlich nicht von seinen erotischen Freundschaften lassen? Nein. Das hätte ihn zerstört. Er hatte nicht die Kraft, seine Lust auf andere Frauen zu beherrschen.
    Und außerdem schien ihm das überflüssig. Niemand wußte besser als er, daß seine Abenteuer Teresa in keiner Weise
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