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06 - Denn keiner ist ohne Schuld

06 - Denn keiner ist ohne Schuld

Titel: 06 - Denn keiner ist ohne Schuld
Autoren: Elizabeth George
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NOVEMBER: REGEN
    Cappuccino - das neue Mittel gegen Weltschmerz und Depression. Ein wenig Espresso, ein Schuß geschäumter heißer Milch, dazu eine im allgemeinen geschmacklose Prise Kakaopulver, und schon war angeblich alles wieder in Butter. So ein Blödsinn!
    Deborah St. James seufzte. Sie nahm die Quittung, die eine vorüberkommende Kellnerin ihr diskret auf den Tisch gelegt hatte.
    »Wahnsinn!« sagte sie und starrte bestürzt und verärgert auf den geforderten Betrag. Dabei hätte sie sich eine Straße weiter in ein Pub setzen und damit die hartnäckige innere Stimme befriedigen können, die ihr immer wieder gesagt hatte: Was soll dieses Schicki-Micki-Gehabe, Deb? Du kannst doch genausogut irgendwo ein simples Guinness trinken. Aber nein, sie hatte ins Upstairs gehen müssen, das aufgedonnerte, von Marmor und Glas blitzende Café des Savoy Hotels, wo jeder, der etwas anderes als Wasser trank, für dieses Privileg teuer bezahlen mußte.
    Deborah war ins Savoy gekommen, um ihre Mappe zu präsentieren - einem jungen, aufstrebenden Produzenten namens Richie Rica, der im Auftrag eines neugegründeten Unternehmens der Unterhaltungsbranche namens L. A. Sound Machine arbeitete. Der junge Mann war einmal eben für sieben Tage nach London gekommen, um einen Fotografen zu suchen. Rica hatte den Auftrag bekommen, das neueste Album von Dead Meat, einer fünfköpfigen Band aus Leeds, vom Entwurf bis zur Fertigstellung zu betreuen. Sie sei, bemerkte er, als Deborah kam, »der neunte beschissene Knipser«, dessen Arbeiten er sich ansehen müsse. Er hatte offensichtlich keine Lust mehr.
    Daran änderte leider auch ihr Gespräch nichts. Rittlings auf einem zierlichen vergoldeten Stuhl sitzend, ging Rica ihre Mappe mit dem Interesse und dem Tempo eines Kartengebers in einem Spielcasino durch. Eine nach der anderen segelten Deborahs Aufnahmen zu Boden. Sie sah zu, wie sie abstürzten: ihr Mann, ihr Vater, ihre Schwägerin, ihre Freunde, die neuen Verwandten, die sie durch ihre Heirat gewonnen hatte. Kein Sting oder Bowie oder George Michael war unter ihnen. Sie hatte den Termin sowieso nur der Empfehlung eines Kollegen zu verdanken, dessen Arbeit dem Amerikaner nicht zugesagt hatte. Nach Ricas Miene zu urteilen, würde auch sie nicht weiterkommen als alle anderen.
    Aber das kümmerte sie weniger als das ständige Anwachsen des grauweißen Felds von Fotografien neben Ricas Stuhl. Unter ihnen war eine Aufnahme ihres Mannes, und seine Augen - seine hellen, graublauen Augen, die scharf gegen sein schwarzes Haar abstachen - schienen sie direkt anzusehen. Flucht ist nicht der Weg, schien er zu sagen.
    Immer dann, wenn Simon im Grunde recht hatte, wollte sie ihm einfach nicht glauben. Das war die Hauptschwierigkeit in ihrer Ehe: ihre Weigerung, Gefühlsregungen vor Augen Vernunft walten zu lassen, ihre ständige Fehde mit seiner kühlen Beurteilung der gegebenen Fakten. Verdammt noch mal, Simon, rief sie dann, sag mir nicht, was ich für Gefühle habe, du kennst meine Gefühle nicht... Und am heftigsten, am bitterlichsten pflegte sie zu weinen, wenn sie wußte, daß er recht hatte.
    So wie jetzt, da er fast hundert Kilometer entfernt in Cambridge eine Tote untersuchte und eine Serie Röntgenbilder studierte, um mit der ihm eigenen unbestechlichen Sachlichkeit festzustellen zu versuchen, mit was für einer Waffe das Gesicht dieses fremden toten Mädchens entstellt worden war.
    Schließlich kam Richie Rica mit Märtyrermiene wegen der immensen Vergeudung seiner kostbaren Zeit zu einem Urteil: »Okay, das ist ja ganz nett, aber wollen Sie die Wahrheit wissen? Mit den Bildern da ließe sich Scheiße nicht mal verkaufen, wenn sie vergoldet wäre.«
    Deborah nahm die Aussage betont cool. Erst als er, in der Absicht aufzustehen, seinen Stuhl zurückschob, fing ihre leise schwelende Unmut Feuer. Er schob seinen Stuhl nämlich mitten in das Meer von Fotografien, das er auf dem Boden geschaffen hatte, und eines der Stuhlbeine durchbohrte das faltige Gesicht ihres Vaters, wobei ein klaffender Riß entstand.
    Doch auch das brachte ihr Blut eigentlich auch noch nicht in Wallung. Genaugenommen war es Ricas lässiger Kommentar: »O Mist, tut mir leid. Aber Sie können den Alten ja noch mal abziehen, oder?«
    Sie kniete nieder, sammelte ihre Bilder ein, legte sie wieder in die Mappe, band die Mappe zu, sah dann auf und sagte: »Sie sehen eigentlich gar nicht aus wie ein Ignorant. Warum benehmen Sie sich dann wie einer?«
    Womit natürlich - ganz
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