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Der Samurai von Savannah

Der Samurai von Savannah

Titel: Der Samurai von Savannah
Autoren: T. Coraghessan Boyle
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KLEINIGKEITEN
    Im Schwimmen drehte er sich vom Rücken auf den Bauch, schlug mit Armen und Beinen um sich, atmete prustend und schwer und hatte das Gefühl, schon ewig zu schwimmen. Vom Kraulen wechselte er zum Brustschwimmen, dann zum Yokohama-Beinschlag. Erschöpft klammerte er sich an den Rettungsring aus Kork wie ein amorphes Geschöpf der Tiefe, ein bleicher Lappen Haut. Irgendwann in der fünften Stunde dachte er an Suppe. An miso-shiru , Reistopf, eine dünne, nach Meer stinkende Brühe, die seine Großmutter immer aus Fischköpfen und Aal machte. Und er dachte an Bier – an Flaschen wie goldgelbe Juwelen in einem Bett aus Eis –, und schließlich dachte er an Wasser, nur noch an Wasser.
    Als die Sonne unterging, alle Farbe mit sich nahm und eine Wasseroberfläche so glatt und kalt wie gehämmertes Zinn zurückließ, da klebte ihm die Zunge am Gaumen und die innersten Sehnsüchte seiner Eingeweide nagten an ihm wie herrische kleine Tiere. Seine Hände waren aufgedunsen und wund, der Rettungsring scheuerte ihm die Arme auf, Möwen stießen dicht auf ihn herab, um ihn mit professionellem Blick zu fixieren. Am liebsten hätte er aufgegeben. Wäre in den Traum von Bett und Abendessen und Zuhause geglitten, hätte sich Zentimeter um Zentimeter in die Meeresbrühe hineinrutschen lassen, bis der Ring leer dahintrieb und die anonymen Wellen sich über ihm schlossen. Doch er widerstand. Er dachte an Mishima und an Jōchō und an das Buch, das er unter dem jetzt schweren, ausgeleierten Rollkragenpulli um die Brust gebunden trug. Gewickelt in eine Plastikschutzhülle mit Gleitverschluss, befestigt mit schwarzem Isolierband, klebte es an der Stelle, wo sein Herz schlug, und in dem Buch lagen vier komische, kleine, grüne amerikanische Geldscheine.
    Wichtige Überlegungen sollte man auf die leichte Schulter nehmen , sagte Jōchō. Kleinigkeiten sollte man ernst nehmen. Ja. Natürlich. Was machte es schon aus, ob er lebte oder starb, ob er ans Ufer gespült wurde und dort ein Topf voll brodelnder Nudeln mit Schweinefleisch und grünen Zwiebeln auf ihn wartete oder ob die Haie ihm die Zehen anknabberten, die Füße, die Waden, die Schenkel? Was wichtig war, das war … der Mond. Ja: der kleine Bogen eines vollkommen geformten Mondes, wie eine Parenthese in den dunkler werdenden Horizont gemeißelt. Weiß und unberührt stieg er auf, schmal wie ein abgeschnittener Fingernagel. So vergaß er seinen Hunger, seinen Durst, vergaß die unzähligen Zähne des Meeres und machte sich den Mond zu eigen.
    Gleichzeitig wusste er natürlich genau, dass er es schaffen würde, womit sich Jōchōs Ratschlag wesentlich leichter verdauen ließ. Nicht nur die vielen Vögel – Pelikane, Kormorane und Möwen, die westwärts zu ihren Schlafplätzen davonzogen –, auch die Gerüche der Küste sagten ihm das. Matrosen sprechen vom süßen Duft des Landes, der sie dreißig Meilen weit draußen auf dem Meer aufweckt, wenn er heranweht, er aber hatte ihn auf dieser seiner Jungfernfahrt nie wahrgenommen. Jedenfalls nicht an Bord der Tokachimaru. Erst hier, als er flach auf dem Wasser lag und die zwanzig kurzen Jahre seines Lebens sich aufdröselten wie die Fasern einer ausgefransten Schnur, da spürte er ihn. Auf einmal war seine Nase ein Instrument von scharfer, präzise kalibrierter Empfindlichkeit, Hundehaft und akkurat: Er konnte die einzelnen Grashalme an dem schwarzen Ufer unterscheiden, das da irgendwo vor ihm lag, und er wusste auch, dass dort Menschen waren, Amerikaner, mit ihrem Buttergestank, ihren Töpfen voll Mayonnaise und Ketchup und dergleichen, und dass sich unter ihnen toter, trockener Sand befand und Schlamm, in dem es wimmelte von Krabben und Fadenwürmern und all den unsichtbaren Partikeln der Verwesung, aus dem er sich zusammensetzt. Und mehr noch, viel mehr: der Moschusduft wilder Tiere, der gesunde Gestank von Haustieren, von Hunden und Katzen und Papageien, der metallische Geruch nach Sprühlack und Dieselöl, das etwas süßliche Aroma der Auspuffgase von Außenbordmotoren, der Duft – so schwer und mächtig, dass ihm die Tränen kamen – von nachtblühenden Blumen, von Jasmin und Geißblatt und tausend anderen Dingen, die er noch nie gerochen hatte.
    Er war zum Sterben bereit gewesen, und jetzt würde er es schaffen.
    Er war kurz davor. Das wusste er. Er stieß mit den Beinen in das dunkler werdende Wasser.
    »Sollten wir nicht ein Licht anmachen oder so was?«
    »Mmh?« Seine Stimme war ein warmes Murmeln an ihrer
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