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Der Samurai von Savannah

Der Samurai von Savannah

Titel: Der Samurai von Savannah
Autoren: T. Coraghessan Boyle
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bezeichneten. Natürlich konnte sie das nicht lesen, trotzdem war es wie eine Erleuchtung. Saxby stand über ihr und starrte den Rettungsring an, als wäre es ein Fang von unschätzbarem Wert. Das Licht erfasste ihren Schoß, eine leichte Brise wehte den Duft der Küste heran. »Ja«, sagte sie dann, »chinesisch.«

DIE TOKACHI-MARU
    Hiro Tanaka war jedoch ebenso wenig Chinese wie sie. Er war ein Japaner vom Geschlecht der Yamato – mütterlicherseits jedenfalls, da gab es keinen Zweifel –, und er hatte die Tokachi-maru unter erschwerten Umständen verlassen. Tatsache war, er war von Bord gegangen. Gesprungen, um genauer zu sein. Nicht dass er sich in ein Barmädchen verschossen hätte oder sternhagelvoll in einer dunklen Gasse zusammengesunken wäre, während sein Schiff den Anker lichtete: Nein, er hatte einen vorsätzlichen, todesverachtenden Sprung ins Nichts getan. Wie sein Idol Yukio Mishima, und zuvor dessen Idol, Jōchō Yamamoto, war Hiro Tanaka ein Mann von Entschlusskraft. Als er von Bord ging, setzte er sich über kleinliche Wortklauberei hinweg: Er ging gleich über Bord.
    Am fraglichen Tage pflügte die Tokachi-maru auf nördlichem Kurs an der Küste Georgias entlang, mit einer Ladung von Traktorenteilen, DAT -Kassettenrekordern und Mikrowellenherden unterwegs nach Savannah. Es war ein Tag wie jeder andere, der Wind war kräftig, die Sonne brannte sich in den Himmel, der 12.000-Tonnen-Frachter bügelte die Wellen glatt, als wären es Falten in einem Hemd. Bis auf sechs Mann saß die vierzigköpfige Crew bei einem Mittagessen nach westlicher Art (Corned Beef mit Ölsardinen, Rührei und Pommes frites, alles friedlich vereint in einem einzigen Topf und verfeinert mit Steaksoße und scharfem Senf). Kapitän Nishizawa war in seiner Kabine und schlief den als Aperitif genossenen Sake aus, Steuermann Wakabayashi und der Erste Maat Kuma befanden sich im Kartenraum beziehungsweise am Steuerruder, die Leichtmatrosen Ueto und Dorai hatten Wache, und Hiro saß im Arrest.
    Genauer genommen saß Hiro in einem Lagerraum auf dem dritten Deck. Dieser war mit sechs Quadratmetern ungefähr so groß wie die Wohnung, in der er mit seiner Großmutter gelebt hatte, ehe er auf der Tokachi-maru angeheuert hatte, und wurde von einer einzigen flackernden 40-Watt-Glühbirne erhellt. Man hatte Hiro eine Holzschüssel und Stäbchen zur Deckung seines Nahrungsbedarfs gegeben, einen Eimer, in den er sich entleeren konnte, und zum Schlafen einen Futon, den er auf dem kalten Stahlboden ausgebreitet hatte. Belüftung gab es keine, und der kleine Raum stank nach Desinfektionsmittel und dem Schweröl, das Tag und Nacht in den schweren Dampfturbinen verfeuert wurde. Zwanzig Mops, zwanzig Eimer und sechzehn Besen hingen an Schraubhaken von den Wänden. Diverse Gegenstände – Farbkratzer, leere Sapporo-Bierkisten und ein einzelner, teerbespritzter Nike-Turnschuh – lagen dort, wo der letzte hohe Seegang sie verstreut hatte. Die Tür war von außen verriegelt.
    Obwohl Hiro ein gewissenhafter, wohlerzogener und friedfertiger Mensch war, so still und bedächtig, dass er unter seinen Schiffskameraden nahezu unsichtbar wirkte, saß er gefangen in dieser grässlichen Stahlkammer, bekam eine strenge Diät aus zwei Bällchen weißem Reis und einer Blechtasse Wasser täglich, und all dies wegen eines für ihn eigentlich untypischen Aktes der Auflehnung: Er hatte sich dem ausdrücklichen Befehl eines Vorgesetzten widersetzt. Der Vorgesetzte war Steuermann Wakabayashi gewesen, ein Überlebender der Schlacht von Rarotonga, dem heute noch Schrapnell im verlängerten Rücken, in den Armen, Beinen, Füßen und der Schädelbasis steckte und der infolgedessen ein etwas hitziges Temperament besaß. Er hatte Hiro ausdrücklich Befehl erteilt, davon abzulassen, die Luftröhre des Ersten Kochs Chiba zusammenzupressen, der zu dieser Zeit unter dem vollen Gewicht des ergrimmten Hiro hilflos um sich tretend auf dem Boden der Kombüse lag. Und das war nicht wenig, denn mit seinen ein Meter achtundsiebzig wog Hiro, der übermäßig gerne aß, gut an die neunzig Kilo. Chiba dagegen, der übermäßig gerne trank, wog weniger als ein nasser Lappen.
    Es war eine chaotische Szene. Der Zweite Koch, Moronobu Unagi, der einmal im Streit um eine Flasche Suntory-Whisky einem Leichtmatrosen das Gesicht verbrüht hatte, kreischte wie ein Papagei: »Mord! Mord! Mord! Er bringt ihn um!« Der Erste Maschinist, ein stiller, in sich gekehrter Mann Mitte siebzig mit
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