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Der Samurai von Savannah

Der Samurai von Savannah

Titel: Der Samurai von Savannah
Autoren: T. Coraghessan Boyle
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war: Er würde ihnen entfliehen, er wusste es, und dieses Wissen verlieh ihm Kraft. Sie hatten ihn mit ihrem typischen Essen gefüttert, mit dem amerikajin -Wackelpudding, den Pfirsichhälften, den Makkaroni mit Käse, aber sie hatten ihm keine Stäbchen dazu gegeben, nicht einmal Messer und Gabel. Sie gaben ihm einen Löffel, ein jämmerliches Ding, keine drei Millimeter stark. Aber der Löffel war fest und kalt, und er würde seinen Zweck erfüllen. Er versteckte ihn unter dem Kissen.
    Er wartete auf die Nacht. Auf die langen, pulsierenden, matt erleuchteten Stunden, in denen die Schwestern leiser auftreten, in denen das Stechen und Schießen und die Bandenkriege nachlassen und die unheilbaren Patienten ihre gnadenlose einsame Nachtwache aufnehmen würden. Es war die Zeit, in der dem hakujin -Wächter, wie den anderen Wächtern vor ihm, die Augen zufallen würden, für eine Minute zumindest …
    Ja. Und den ganzen Tag über – sobald sie ihn einmal allein ließen, sobald der Wächter an der Tür einem Paar Beine oder einem Hinterteil durch den Gang nachblickte oder von Essen, Sex oder Gewalt träumte und die Augen schloss, sobald die Schwester Bettpfannen leerte, sich die Nägel manikürte oder im Schwesternzimmer vor einem Sandwich mit Thunfischaufstrich hockte – hatte Hiro den kalten, harten Griff seines Löffels an der Betonwand hinter dem Bett geschärft. Strich für Strich. Ssst. Ssst, ssst, ssst. Der Löffel war aus gehärtetem Stahl und verursachte nur ein leises, liebevolles Wispern. Ja. Und jetzt war es kein Löffel mehr: Es war eine Klinge, ein Messer, ein Samuraischwert.
    Er hatte jede Menge Zeit, sagte er sich, kein Grund zur Eile. Tue es richtig. Tue es in Ehrenhaftigkeit und Würde und Eleganz. Er setzte sich im Bett auf und lehnte sich gegen die Wand. Sein Haar war verfilzt, er wusste und bedauerte es. Und auch seine Haut – hätte er doch daran gedacht, Ruth um etwas Puder oder Rouge zu bitten, irgendetwas, das ihm ein wenig Farbe gegeben hätte. Aber er war krank und ausgehungert, gehetzt und geschunden, was konnte man erwarten? Er benetzte die Finger mit Spucke und fuhr sich damit durchs Haar, immer wieder, bis es glatt lag. Der Wächter saß auf einem Stuhl direkt vor der Tür. Seine Schultern waren herabgesunken, der Kopf lehnte am Türrahmen. Auch wenn er nicht richtig schlief, sehr aufmerksam war er jedenfalls nicht.
    Wie hatte Jōchō gesagt? – In einer Krise auf Leben und Tod, die so oder so ausgehen kann, entscheide dich ganz einfach für den sofortigen Tod. So oder so. Das war ein Witz. Wenn die Chancen nur fiftyfifty stünden, wenn er wenigstens so sviel Optimismus hätte, wenn er nur jene närrische Gelassenheit wiedererlangen könnte, wie sie ihn bei seinem Sprung in den ölig-schwarzen Atlantik durchströmt hatte. Fünfundneunzig, dachte er, fünfundneunzig zu fünf, alle Chancen standen gegen ihn. Eine Kleinigkeit, nicht wahr?
    Er schärfte die Kinge noch einmal, ein tödliches Wispern, Stahl auf Beton. Solange wir leben, ist der Tod ohne Bedeutung; wenn wir tot sind, existieren wir nicht mehr. Es gibt also keinen Grund, den Tod zu fürchten. Eine Kleinigkeit. Im gedämpften Licht des Korridors betrachtete er den Hinterkopf des Wächters, den schlaff herabhängenden Arm, und dann holte er tief Luft, schob das dünne Krankenhemd hoch, um sein hara freizulegen, und tastete nach dem kikai tanden , nach der Stelle, wo der Geist auf seine Befreiung wartete. Er hielt den Atem an und richtete die Klinge, das Messer, das Schwert gegen sein Fleisch. Ein Schlag seines Herzens, zwei, und dann stieß er es hinein, mit aller Kraft, die er hatte.
    Es war wie ein Hieb, ein mächtiger Hammerschlag, aber schlimmer, viel schlimmer, heiß und durchdringend, ein Schmerz, wie er ihn noch nie verspürt hatte: Er hatte geschmolzenes Blei, glühende Lava geschluckt, bestand nur noch aus Schweiß und Gehirn. Und Willen. Er trieb die Waffe tiefer, und er hielt es nicht aus, er fuhr mit der Klinge kreuz und quer, zog sie durch und hackte drauflos, sein Arm wurde ganz lahm davon. Wieder und wieder zwang er sich und grub noch tiefer, dicht am Rande der Ohnmacht. Und dann gebar er etwas: die eigenen bleichen Gedärme quollen aus dem Loch, das er in sich selbst gerissen hatte, dazu die Hitze und der Schmerz und der reglose, schlaffe Arm des Wächters, noch immer umrahmt von dem erbärmlichen Licht … und nun stieg ihm der Geruch in die Nase, die Wärme seines Bluts und der faulige, scharfe Verwesungsgestank
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