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Der Samurai von Savannah

Der Samurai von Savannah

Titel: Der Samurai von Savannah
Autoren: T. Coraghessan Boyle
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sie nie mehr vergessen – nur ein feiner, hauchdünner, ausgefranster Faden hielt ihn davor zurück. Während der ganzen langen Fahrt zur Anlegestelle saß sie im niederprasselnden Regen und starrte ins Leere, fühlte sich hilflos, wie eine Abtrünnige, fühlte sich vergewaltigt.
    Das war der Tiefpunkt.
    Als sie zur Anlegestelle kamen, als die Menschenmenge die dünnen Reihen der Polizei durchbrach und sich vorwärtsschob, um einen Blick auf Hiro Tanaka, den Desperado, den Ausbrecher, den Ausländer zu erhaschen, lauter unscheinbare, sonnenverbrannte Gesichter und ruhige hellblaue Augen, die sich gegen jedes empörende, skandalöse Extrem gewappnet hatten, als eine Art Raserei die Presseleute erfasste und selbst die Polizisten angestrengt auf ihre Kautabakpfrieme bissen und mühsam ihren Gleichmut wahrten, da kam die Wende für Ruth. Die Menge überflutete sie, überflutete ihn. Die Polizei bahnte ihnen den Weg, machte eine Schneise zum Krankenwagen frei, dann die weißen Ärmel und Hosen, die sicheren Hände der Sanitäter, und der Regen ging nieder, nieder und nieder. Lichter rotierten, Sirenen heulten, dann war Hiro weg, und Ruth klammerte sich wie betäubt an das Bild, wie er eben noch auf der Trage gelegen hatte, über ihm Turco wie ein Vampir. Sie gaben ihr fünf Minuten Zeit, und wie durch einen Nebel fand sie den Weg in die Damentoilette des Touristenzentrums, wischte sich die klebrige Schicht Insekten und Schweiß aus dem Gesicht, band das Haar mit dem Tuch zusammen, das ihr eine der Angestellten gegeben hatte, und trat dann in die Lobby hinaus, um sich ihnen zu stellen.
    Dann, erst dann wurde ihr klar, was für eine großartige Story das Ganze war. Und was für eine großartige Rolle sie dabei gespielt hatte. Und wie viel sie wusste, was niemand sonst wusste. Zum Teufel mit Jessica McClure und der Frau im Meer, das hier war die Story der Stunde, und sie stand mitten im Zentrum. Sie rammten ihr Mikrofone vors Gesicht, richteten grelle Lampen und Blitzlichter auf sie, und sie wusste, dass sie hier eine Story hatte, keine Short Story, keine mühsam formulierte Geschichte, die sich um eine obskure künstlerische Wahrheit bemühte, sondern eine richtige, echte Geschichte, eine harte, brutale und schmerzliche Geschichte aus dem wirklichen Leben – und noch dazu war sie die Heldin. Diese Erkenntnis durchfuhr sie in einem kurzen, grellen, blitzlichterhellten Augenblick der Erleuchtung.
    Sie lächelte in die Kameras.
    Am nächsten Tag hatte Jane ihren Unfall.
    Ruth war wieder auf Thanatopsis, zurück in Septimas Gunst, zurück im Bienenkorb, die Einwanderungsbehörde hatte ihren Mann, und Saxby hatte seine Fische. Sie hatte ihre entzündete Epidermis abwechselnd mit heißen und kalten Bittersalzbädern behandelt, jede ihrer unzähligen Pusteln mit Alkohol und lindernden Lotionen betupft und bis Mittag geschlafen. Als sie beim späten Frühstück auf der Veranda saß – niemand hätte erwartet, dass sie nach all den Strapazen arbeitete –, hatte sie Irving Thalamus getroffen, der gerade mithilfe eines großen Gin mit Calistoga und der New York Review of Books seinen Kater pflegte. Sie unterhielt sich mit ihm ausführlich über ihre Idee, einen längeren Zeitschriftenartikel oder sogar ein Buch über den ganzen Vorfall zu schreiben, und Irving stellte für sie einen Kontakt mit seinem Agenten Marker McGill von der ehrwürdigen Agentur McGill-Madden her. Das war ermutigend gewesen, aber sie fühlte sich immer noch mies wegen ihrer katastrophalen Lesung, obwohl ihr alle versicherten, es habe eigentlich ganz gut geklappt, auch wenn es ein bisschen lang gewesen sei, und wegen Hiro fühlte sie sich noch mieser. Sie konnte den Schock nicht vergessen, wie er ausgesehen hatte mit seinem fiebrigen Blick, den zerschundenen Gliedmaßen, den eingefallenen Wangen und der blutenden Haut – und diese Blutegel, überall Blutegel, sie klebten an ihm wie Heftpflaster – und wie er auf sie zugewankt war. Deswegen fühlte sie sich am allermiesesten. Er liebte sie. Er vertraute ihr. Und sie hatte ihn verraten. Andererseits hatte sie ja keine andere Wahl gehabt. Und letzten Endes war es auch für ihn am besten – kein Gefängnis konnte schlimmer sein als der Sumpf, und es stand ganz außer Frage, dass er dort draußen umgekommen wäre.
    Ruth befand sich gerade im vorderen Salon und wartete auf Marker McGills Rückruf, als sie Jane hereinbrachten. Ein paar Stunden vorher, es musste so gegen drei gewesen sein, hatte sie von der
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