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Totengrund

Totengrund

Titel: Totengrund
Autoren: Tess Gerritsen
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Plain of Angels, Idaho
    Sie war die Auserwählte.
    Schon seit Monaten beobachtete er das Mädchen, seit dem Tag, als sie mit ihrer Familie in die Siedlung gezogen war. Ihr Vater war George Sheldon, ein mittelmäßiger Zimmermann, der im Bautrupp arbeitete. Ihre Mutter, eine farblose und unauffällige Frau, wurde der Gemeinschaftsbackstube zugewiesen. Sie waren beide arbeitslos und verzweifelt gewesen, als sie zum ersten Mal seine Kirche in Idaho Falls betreten hatten, auf der Suche nach Trost und Erlösung. Jeremiah hatte ihnen in die Augen geblickt, und er hatte gesehen, was für ihn das Entscheidende war: verlorene Seelen auf der Suche nach Halt, nach irgendeinem Rettungsanker.
    Sie waren reif für die Ernte.
    Jetzt wohnten die Sheldons mit ihrer Tochter Katie in Haus C, im neu erbauten Golgatha-Block. Jeden Sabbat saßen sie auf den ihnen zugewiesenen Plätzen in der vierzehnten Reihe. Im Garten vor ihrem Haus pflanzten sie Malven und Sonnenblumen, die gleichen farbenfrohen Pflanzen, die auch alle anderen Gärten zierten. Auf jede erdenkliche Weise fügten sie sich in die vierundsechzig anderen Familien ein, welche die »Zusammenkunft« bildeten; Familien, die miteinander arbeiteten, miteinander beteten und jeden Sabbatabend gemeinsam das Brot brachen.
    Aber in einem bedeutsamen Punkt waren die Sheldons einzigartig: Sie hatten eine außergewöhnlich schöne Tochter. Die Tochter, von der er den Blick nicht wenden konnte.
    Von seinem Fenster aus konnte Jeremiah sie auf dem Schulhof sehen. Es war gerade Mittagspause; die Schüler liefen draußen umher und genossen den warmen Septembertag, die Jungen in ihren weißen Hemden und schwarzen Hosen, die Mädchen in ihren langen pastellfarbenen Kleidern. Alle sahen sie gesund und sonnenverwöhnt aus, wie es bei Kindern sein sollte. Selbst unter all diesen schwanengleichen Mädchen stach Katie Sheldon hervor, mit ihren unbezähmbaren Locken und ihrem glockenhellen Lachen. Wie schnell so ein Mädchen sich verändert, dachte er. Binnen eines einzigen Jahres hatte sie sich von einem Kind in eine gertenschlanke junge Frau verwandelt. Ihre strahlenden Augen, ihr glänzendes Haar und ihre rosigen Wangen – all das waren Anzeichen von Fruchtbarkeit.
    Sie stand zusammen mit zwei anderen Mädchen im Schatten einer Eiche, die Köpfe zusammengesteckt wie drei Grazien, die einander Geheimnisse zuflüsterten. Um sie herum ließen die anderen Schüler ihrer überschüssigen Energie freien Lauf – schwatzten, spielten Himmel und Hölle oder kickten einen Fußball hin und her.
    Plötzlich bemerkte er, wie ein Junge auf die drei Mädchen zuging, und er runzelte die Stirn. Der Junge war vielleicht fünfzehn, mit einem blonden Haarschopf und langen Beinen, für die seine Hose schon zu kurz war. Auf halbem Weg über den Schulhof blieb der Junge stehen, als müsse er erst seinen Mut zusammennehmen, ehe er weiterging. Dann hob er den Kopf und marschierte geradewegs auf die Mädchen zu. Auf Katie.
    Jeremiah drückte sich dichter an die Fensterscheibe.
    Katie blickte auf und lächelte, als der Junge auf sie zukam. Es war ein reizendes, unschuldiges Lächeln, gerichtet an einen Klassenkameraden, der mit an Sicherheit grenzender Wahr scheinlichkeit nur eines im Sinn hatte. O ja, Jeremiah konnte sich sehr wohl denken, was im Kopf dieses Jungen vorging. Sündige, schmutzige Gedanken. Jetzt unterhielten sie sich, Katie und der Junge, während die beiden anderen Mädchen sich mit wissenden Blicken zurückzogen. Bei dem Lärm auf dem Schulhof konnte er nicht verstehen, was sie sagten, doch er sah, wie Katie aufmerksam den Kopf zur Seite neigte, wie sie mit einer koketten Bewegung ihr Haar über die Schulter warf. Er sah, wie der Junge sich vorbeugte, als wolle er genüsslich ihren Duft einsaugen. War das dieser McKinnon-Balg? Adam oder Alan, so hieß er wohl. Inzwischen wohnten so viele Familien in der Siedlung, so viele Kinder, dass er sich nicht alle ihre Namen merken konnte. Er starrte grimmig auf die beiden hinunter und hielt den Fensterrahmen so fest gepackt, dass seine Fingernägel sich ins Holz bohrten.
    Er fuhr auf dem Absatz herum, verließ sein Büro und stapfte die Treppe hinunter. Mit jedem Schritt verkrampften sich seine Kiefermuskeln mehr, und die bittere Galle schien ein Loch in seinen Magen zu brennen. Er riss die Tür auf und stürmte ins Freie, doch vor dem Schulhoftor blieb er stehen und rang mühsam um Beherrschung.
    So durfte er sich nicht sehen lassen. Es gehörte sich nicht,
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