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Sommerhaus mit Swimmingpool

Sommerhaus mit Swimmingpool

Titel: Sommerhaus mit Swimmingpool
Autoren: Herman Koch , Pößneck GGP Media GmbH
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    Ich bin Hausarzt. Von morgens halb neun bis mittags um eins halte ich Sprechstunde. Ich nehme mir Zeit. Für jeden Patienten zwanzig Minuten. Das ist mein Markenzeichen. Welcher Hausarzt hat heutzutage schon zwanzig Minuten Zeit für einen, sagen die Leute – und sagen es weiter. Er nimmt nicht zu viele Patienten an, sagen sie. Er will sich für jeden Einzelnen Zeit nehmen. Ich habe eine lange Warteliste. Für jeden Patienten, der stirbt oder umzieht, melden sich auf einen einzigen Anruf hin fünf neue.
    Patienten verwechseln Zeit mit Aufmerksamkeit. Sie glauben, sie bekämen mehr Aufmerksamkeit von mir als von anderen Hausärzten. Doch ich widme ihnen nur mehr Zeit. Was ich wissen muss, habe ich schon nach einer Minute herausgefunden. Die übrigen neunzehn Minuten kann ich dann mit Aufmerksamkeit füllen. Oder besser gesagt: mit der Illusion von Aufmerksamkeit. Ich erkundige mich nach dem Sohn, nach der Tochter. Frage, ob sie wieder besser schlafen. Ob sie nicht zu viel oder zu wenig essen. Ich lege ihnen das Stethoskop erst an die Brust, dann an den Rücken. Einmal tief einatmen, sage ich. Langsam ausatmen. Ich höre nicht richtig hin. Zumindest versuche ich das. Innen klingen alle menschlichen Körper gleich. An erster Stelle ist da natürlich das Herz. Das Herz weiß von nichts. Es pumpt. Es ist ein Maschinenraum. Der Maschinenraum hält das Schiff nur in Bewegung, derKurs wird woanders gesetzt. Dann gibt es die Geräusche der Eingeweide. Der Organe. Eine überlastete Leber klingt anders als eine gesunde. Eine überlastete Leber ächzt. Sie ächzt und fleht. Sie fleht um einen einzigen Ruhetag. Einen Tag, an dem sie den schlimmsten Abfall entsorgen kann. Denn gerade ist sie immer mit der Arbeit im Rückstand. Die überlastete Leber ist wie die Küche eines Restaurants, das niemals schließt. Der Abwasch türmt sich. Die Spülmaschinen laufen auf Hochtouren. Doch die schmutzigen Teller und angebrannten Töpfe stapeln sich immer höher. Die überlastete Leber setzt ihre ganze Hoffnung auf diesen einen Ruhetag, der nie kommt. Jeden Tag gegen Ende des Nachmittags (und manchmal schon früher) wird diese Hoffnung zunichtegemacht. Wenn die Leber Glück hat, fängt es erst nur mit Bier an. Da kann sie die meiste Arbeit auf die Nieren abwälzen. Aber natürlich gibt es immer Leute, denen Bier nicht genügt. Sie nehmen noch was dazu: einen Genever, einen Wodka, einen Whisky. Etwas, was sie mit einem Zug hinunterkippen können. Die Leber ist bis zum Zerreißen gespannt. Erst wird sie hart, wie ein zu fest aufgepumpter Reifen, den schon eine kleine Unebenheit auf der Straße zum Platzen bringt.
    Ich höre die Leber mit dem Stethoskop ab. Ich drücke mit dem Finger auf die harte Stelle unter der Haut. Tut es hier weh? Wenn ich noch fester drücke, reißt mir die Leber gleich hier in der Praxis. Das kann ich nicht gebrauchen. Auf diese Schweinerei kann ich verzichten. Das Blut kommt in einem Schwall hoch. Kein Hausarzt hat gerne einen Sterbefall in seinem Behandlungszimmer. Zu Hause können sie machen, was sie wollen. In ihrem eigenen Haus, mitten in der Nacht, in ihrem eigenen Bett. Bei einem Leberriss schaffen sie es meist nicht mal mehr bis zum Telefon. Der Krankenwagen käme so oder so zu spät.
    Im Abstand von zwanzig Minuten kommen meine Patienten in die Sprechstunde. Meine Praxis liegt im Parterre. Siekommen auf Krücken und in Rollstühlen. Manche sind zu schwer, andere kurzatmig. Treppensteigen können sie nicht mehr. Es würde ihren sicheren Tod bedeuten. Andere bilden es sich nur ein: dass schon mit dem Erklimmen der ersten Stufe ihr letztes Stündlein geschlagen hätte. Diese Patienten sind bei Weitem in der Mehrzahl. Den meisten fehlt nämlich gar nichts. Sie ächzen und stöhnen, geben Laute von sich, als würden sie dem Tod unablässig ins Auge sehen, sie lassen sich mit einem Seufzer auf den Stuhl gegenüber meinem Schreibtisch fallen – aber ihnen fehlt nichts. Ich höre mir ihre Beschwerden an. Hier tut es weh und hier, manchmal strahlt der Schmerz bis hier unten aus … Ich setze eine interessierte Miene auf und kritzle etwas auf einen Zettel. Ich bitte sie, mir ins Behandlungszimmer zu folgen. Nur in Ausnahmefällen fordere ich jemanden auf, sich hinter dem Wandschirm auszuziehen. In Kleidern finde ich diese menschlichen Körper schon schlimm genug. Wenn es irgend geht, möchte ich mir den Anblick jener Körperteile ersparen, die nie das Licht der Sonne zu sehen bekommen. Die Hautfalten,
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