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Einzelstücke - Möller, M: Einzelstücke

Einzelstücke - Möller, M: Einzelstücke

Titel: Einzelstücke - Möller, M: Einzelstücke
Autoren: Michaela Möller
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1.
Sie haben die Wahl!
    H aben Sie sich in letzter Zeit des Öfteren mal in lebensmüder Überzeugung auf die Außenseite Ihres Balkons begeben? Dann gut festhalten. Oder den nächsten Schritt machen. Ich bin wie immer unschlüssig, während ich die vier Stockwerke in die Tiefe blicke, in der Ahnung, dass dort unten irgendwo die frisch verlegten Terrakottafliesen von Frau Sondtheim aus dem Parterre sein müssen. Der kühle Nachtwind verwirbelt mein Haar. Mürrisch stelle ich fest, dass heute Vollmond ist. Ein schlechter Tag, sich umzubringen, wie ich finde. Ich bediene ungern die Klischees. Meine Finger umgreifen das Eisen wieder etwas fester, meine Gedanken wandern zu Carl Lenartz, meinem Vater. Was er in dieser Situation getan hätte, ist bekannt. Aber wäre es schlau, in seine Fußstapfen zu treten? Ich erinnere mich daran, wie mein Vater mir kurz vor seinem Tod noch erklärte:
    »Wir Menschen sterben nicht an den Dingen, vor denen wir Angst haben, mein Butterblümchen. Wir sterben an den Dingen, vor denen wir keine Angst haben.«
    An Sonnenbrand.
    An rohem Fisch.
    An Heimwerkerarbeiten, weil wir am Fachmann sparen.
    An roten Fußgängerampeln.
    An Geschwindigkeitsüberschreitungen.
    An den Nebenwirkungen eines Medikaments.
    An der Weglassung dieses Medikaments.
    An Großveranstaltungen.
    An einem Herzinfarkt, den wir zu Hause allein im Sessel erleiden, weil wir nicht auf Großveranstaltungen gehen.
    An verunreinigtem Wasser.
    An zu wenig Flüssigkeit über die Jahre.
    An Sprüngen von Balkonbrüstungen.
    An Liebe zu einem Mann.
    Eines der oben aufgeführten Dinge ist mein Schicksal. Sie dürfen raten, welches. Fest steht, dass ich die damit einhergehenden Gefahren unterschätzt habe und es mich nun über kurz oder lang umbringen wird.
    Dumm ist nur, dass, so wie man die Sonne liebt und rohen Fisch und das schnelle Vorankommen, ich anscheinend auch diesen Mann liebe und die Unterlassung dessen schwerer fällt als gedacht. Und schon wird der Griff um das Eisengeländer wieder etwas lockerer.
    Er hat mich nicht verlassen. Und er betrügt mich auch nicht mit einer anderen. Nein, es ist viel schlimmer.
    Also, Anna. Jetzt konzentrier dich! Was ist zu tun?
    Mal überlegen.
    Aktuell sehe ich mich zwischen diesen Alternativen hin und her schwanken: unverzüglich große Mengen an Alkohol konsumieren, einen kleinen Schritt nach vorn machen, einen die Dinge nur noch verschlimmernden Anruf bei ihm tätigen.
    Und daher frage ich Sie, für welche der drei Maßnahmen würden Sie sich zur akuten Krisenbewältigung entscheiden?
    *
    NOTFALLPLAN NO. 1
    ART DES VORFALLS: EMOTIONALE FEHLENTWICKLUNG MIT AUSGEPRÄGTEM SUCHTCHARAKTER
    SCHWERE: LEBENSBEDROHLICH
    MAßNAHMENKATALOG:
    1. BETRINKEN
    2. SPRINGEN
    3. ANRUFEN
    ZEITPLAN: ERST ÜBERLEGEN, DANN HANDELN!
    KONTAKTPERSON: ENTFÄLLT
    *
    Vielleicht sollte ich vor der Erwägung ersterer Option erwähnen, dass der zu konsumierende Alkohol ein Geschenk meiner Nachbarin Frau Sondtheim ist und daher davon auszugehen ist, dass jener Merlot eher aus dem Supermarktregal ganz unten stammt. Meine Nachbarin gehört zu den Menschen, die lieber sich selbst statt ihre Beziehungen pflegen, und scheint damit beneidenswert glücklich zu sein. Daher ist der Rotwein, den sie für mich ausgewählt hat, billig. Billig und willig mich des Verstands und der gesamten Erinnerungen des letzten halben Jahres zu berauben. Zudem eignet sich Alkohol hervorragend als Einstieg für grausame Taten.
    Hmm.
    Zur Balkonbrüstung kann ich nur sagen, dass sie sich im vierten Stock an mein Schlafzimmer angrenzend befindet. Mein Blick wandert an den Fenstern des gegenüberliegenden Gebäudes hinab, um den Boden auszumachen. Wenn irgendetwas hier von diesem Balkon fallen würde, landet es ein paar Dutzend Meter tiefer auf Terrakotta zwischen Designerliege und Koikarpfenteich, was natürlichkein schöner Anblick wäre, aber auch nicht weiter schlimm, weil genau dort Frau Sondtheim wohnt.
    Und dann wäre da noch das Handy. Mein Herz hat mittlerweile aufgehört zu schlagen. Ich löse eine Hand vom kalten Eisengeländer und ziehe es aus meiner Hosentasche. Als ich mit den Fingern über das Display fahre und seinen Namen tippe, schwankt mein Körper wie ein Fähnchen im Wind.
    Nur noch einmal seine Stimme hören.
    Gute Idee?
    Gute Idee.
    Mein Finger hebt sich.
    Ich könnte aber auch einfach springen.
    Das alles hinter mir lassen.
    Es ist ganz einfach.
    Ich muss nur das Geländer loslassen.
    Loslassen statt
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