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Dickner, Nicolas

Dickner, Nicolas

Titel: Dickner, Nicolas
Autoren: Nikolski
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Magnetische Abweichung
    Mein Name ist ohne Bedeutung.
    Alles beginnt im September 1989 gegen sieben Uhr in der Frühe.
    Ich schlafe noch, eingerollt in meinen Schlafsack, im Wohnzimmer auf dem Boden. Um mich herum stapeln sich Pappkartons, zusammengerollte Teppiche, halb auseinandergenommene Möbel und Werkzeugkisten. Die Wände sind kahl bis auf die hellen Flecken von den Bilderrahmen, die dort allzu lange hingen.
    Durch das Fenster hört man den monotonen Rhythmus der Wellen, die sich auf dem Kieselstrand brechen.
    Jeder Strand hat seine ganz eigene akustische Signatur, die abhängig ist von der Länge und Stärke der Wellen, von der Beschaffenheit des Bodens, der Morphologie der Landschaft, der vorherrschenden Windrichtung und der relativen Luftfeuchtigkeit. Es ist so gut wie unmöglich, das leise Murmeln Mallorcas mit dem kräftigen Rollen der vorgeschichtlichen Steine Grönlands zu verwechseln oder die Musik der Korallenstrände Belizes mit dem dumpfen Grollen der Küsten Irlands.
    Und auch die Brandung, die ich an diesem Morgen höre, ist ganz klar zuzuordnen. Dieses tiefe, ein wenig raue Rauschen, der kristalline Klang des vulkanischen Gesteins, die leicht asymmetrische Wiederkehr der Wellen, das nährstoffreiche Wasser – das ist die unnachahmliche Brandung auf den Aleuten.
    Grummelnd öffne ich das linke Auge einen Schlitz breit. Woher kommt dieses höchst unwahrscheinliche Geräusch? Der nächste Ozean ist über tausend Kilometer weit entfernt. Und ich war in meinem Leben übrigens auch noch nie an einem Strand.
    Ich schäle mich aus dem Schlafsack und taumele zum Fenster. Am Vorhang festgekrallt sehe ich den Wagen der Müllabfuhr unter Druckluftgequietsche vor unserem Bungalow anhalten. Seit wann imitieren Dieselmotoren das Geräusch der Brandung?
    Schäbige Vorstadtpoesie.
    Die zwei Müllmänner springen von ihrem Fahrzeug und betrachten den Berg übereinandergetürmter Plastiksäcke auf dem Gehweg. Der erste tut so, als würde er sie zählen und macht einen schwer geschafften Eindruck. Plötzlich kommen mir Zweifel: Habe ich etwa gegen eine städtische Verordnung verstoßen, die die Anzahl der Müllsäcke pro Haus beschränkt? Der zweite Müllmann, sehr viel pragmatischer, beginnt den Wagen zu beladen. Ihm sind die Anzahl, der Inhalt oder die Geschichte der Säcke ganz offensichtlich egal.
    Es sind genau dreißig Stück.
    Ich habe sie im Laden an der Ecke gekauft – ein Einkaufserlebnis, das ich so bald nicht vergessen werde. Am Regal mit den Dingen für den Haushaltsbedarf stehend, fragte ich mich, wie viele Müllsäcke man wohl bräuchte, um die unzähligen Erinnerungen, die meine Mutter seit 1966 angesammelt hatte, darin unterzubringen. Wieviel Platz brauchte man wohl für dreißig Jahre eines Lebens? Ich sträubte mich dagegen, diese pietätslose Rechnung anzustellen. Zu welchen Ergebnissen ich auch käme, ich fürchtete, die Existenz meiner Mutter zu gering einzuschätzen.
    Ich hatte eine Marke ins Auge gefasst, die mir ziemlich reißfest erschien. In jedem Paket befanden sich zehn revolutionäre Müllsäcke aus Ultra-Plastik mit einem Volumen von 60 Litern. Ich nahm drei Stück, entsprechend einem Gesamtvolumen von 1800 Litern.
    Diese dreißig Säcke erwiesen sich als ausreichend – auch wenn ich ab und zu mit dem Fuß nachhelfen musste – und nun machen sich die Müllmänner daran, sie dem Wagen ins Maul zu schleudern. Von Zeit zu Zeit zerdrückt ein schwerer Eisenkiefer die Abfälle und grunzt dabei ganz nach Art eines Dickhäuters. Weit entfernt vom poetischen Säuseln der Wellen.
    Aber der eigentliche Beginn der ganzen Geschichte, da ich sie nun einmal erzählen muss, war der Nikolski-Kompass.

    Dieser alte Kompass kam im August wieder zum Vorschein, zwei Wochen nach der Beerdigung.
    Der endlose Todeskampf meiner Mutter hatte mich vollkommen erschöpft. Seit der ersten Diagnose war mein Leben zu einem wahrhaften Staffellauf geworden. Rund um die Uhr pendelte ich zwischen Wohnung, Arbeit und Krankenhaus hin und her. Ich schlief nicht mehr, aß immer weniger und hatte fast fünf Kilo abgenommen. Man hätte glauben können, ich sei es gewesen, der sich mit den Metastasen herumschlug – doch gab es kein Verwechseln: Meine Mutter starb nach sieben Monaten, und da stand ich nun, die ganze Welt auf meinen Schultern.
    Ich war leer, verwirrt, aber aufgeben kam nicht in Frage. Sobald der Papierkram erledigt war, machte ich mich an das letzte Großreinemachen.
    Nach Art eines Abenteurers beim
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