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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel
Autoren: Leon Morell
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Prolog
    Januar 1495
    Ihm gegenüber kniete ein Engel, ein leibhaftiger Engel, mit Armen, Beinen und Schultern, so stark wie die seines Vaters. Zudem jedoch hatte er Flügel, zarte, zerbrechliche, weich gefiederte Flügel, mit denen er sich jederzeit mühelos in den Himmel aufschwingen konnte. Sein linkes Knie berührte den Boden, das rechte Bein hatte er aufgestellt, so dass der nackte Fuß unter seinem Gewand hervorkam. Er trug einen Kandelaber, halb so groß wie er selbst, und je nachdem, wie der Schein der Kerze seine Konturen erhellte, konnte er abwechselnd einen gütigen oder drohenden Ausdruck annehmen. Aurelio verharrte reglos in ehrfürchtigem Abstand und betrachtete das knabenhafte Gesicht des Engels. Weder spürte er die Kälte, die ihm seit einiger Zeit die Beine hinaufkroch, noch sah er den feinen, weißen Nebel, den er mit jedem Atemzug ausstieß.
    Doch er begann, hinter seinem Rücken Geräusche wahrzunehmen. Der Engel und er waren nicht allein. Manchmal war es nur das Knacken einer Holzbank, das sich in den Seitenschiffen der Basilika verlor, doch immer wieder glaubte Aurelio, ein Zischen zu vernehmen, als hätten die Säulen des Mittelschiffs zu flüstern begonnen. Verstohlen blickte sich der Junge um. Die Kirche lag im Halbdunkel, die Seitenschiffe ließen sich nur mehr erahnen. Nie zuvor hatte Aurelio ein Gebäude von solchen Ausmaßen betreten, eines, in dem man sich aufzulösen schien und verloren fühlte und dessen Größe sein Verstand nicht zu erfassen vermochte.
    Da war es wieder. Ein kaum vernehmbares Schnaufen, wie von einem Tier. Aurelio fühlte es herannahen, wagte aber nicht, sich ein weiteres Mal umzudrehen. Inzwischen war es ganz dicht bei ihm. Ein Wolf, schoss es ihm durch den Kopf. Am zweiten Tag ihrer Reise war ihnen einer begegnet. Er hatte auf der Via Aemilia gestanden, als habe er dort auf sie gewartet. Tommaso hatte vom Karren steigen und einen Stein nach ihm schleudern müssen, bevor das Tier die Straße wieder freigegeben hatte und in Richtung der Berge im Wald verschwunden war.
    Aurelio wollte davonlaufen, doch seine Beine rührten sich nicht von der Stelle. Sein Herz trommelte wild gegen die Brust. Verzweifelt blickte er zu dem Engel empor.
    »Gefällt er dir?«
    Ein heiseres Krächzen entrang sich der Kehle des Jungen. Kein Wolf. Ein Mann. Aurelio hielt den Blick stur nach vorne gerichtet.
    »Also?«, fragte die Stimme.
    Erst jetzt wagte der Junge einen Blick aus den Augenwinkeln. Besonders groß war der Mann nicht, kaum größer als Aurelios Bruder Matteo, und der war erst vierzehn. Aurelios Atem beruhigte sich ein wenig.
    »Was ist«, drängte die rauchige Stimme, »hat es dir die Sprache verschlagen?«
    Aurelio sah den Engel an und suchte nach den richtigen Worten. Gefällt er dir?, hatte der Mann gefragt, doch gefallen war ein viel zu schwaches Wort, um die Demut zu beschreiben, die Aurelio beim Anblick der Statue überkam.
    »Kann er wirklich fliegen?«, fragte er schließlich.
    »Pah!«, entfuhr es dem Mann, »dieses plumpe Ding wäre nicht in der Lage, sich vom Boden zu lösen, wenn es über ein Dutzend Flügel verfügte.«
    Entsetzt starrte Aurelio den Mann an. Wie konnte er so abfällig über ein Geschöpf von solcher Erhabenheit sprechen?
    Der Mann hatte einen Akzent, wie ihn Aurelio noch nie gehört hatte, und seine Kleidung war die eines Armen – ein Umhang aus grobem Stoff, der eher einer Soutane glich als einem Mantel und durch den sich die sehnigen Schultern abzeichneten. Beinkleider schien er keine zu tragen, und seine nackten Füße steckten in geschnürten Sandalen – wo es doch geschneit hatte und die Piazza vor der Basilika von einem dicken, weißen Teppich überzogen war. Jetzt begriff Aurelio auch, woher das Schnaufen rührte. Die Nase des Mannes saß eigentümlich schief in dessen Gesicht und gab mit jedem Atemzug ein leises Zischen von sich.
    »Hier.« Der Mann trat an die Statue heran. Er war tatsächlich nicht alt, wie der Junge im Schein der Kerze erkannte. »Sieh dir diesen Fuß an.« Aurelio zuckte zusammen, als der Mann den Engel ohne zu zögern am Knöchel ergriff. »Viel zu breit«, erklärte er. »Und die Wölbung müsste ausgeprägter sein. Dann die Hand: Diese unförmigen Griffel sind die Finger eines Schmieds, nicht die eines Engels. Am unverzeihlichsten aber sind die Proportionen. Weißt du, was Proportion bedeutet?«
    Aurelio schüttelte stumm den Kopf.
    »Proportion meint das Verhältnis der einzelnen Teile zueinander. Und das
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