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Dickner, Nicolas

Dickner, Nicolas

Titel: Dickner, Nicolas
Autoren: Nikolski
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einfach nur an einer leichten magnetischen Anomalie?

    Damit sind wir fast am Ende des Prologs angekommen.
    Ich brauchte zwei Wochen, um die dreißig Müllsäcke zu füllen, die die Müllmänner an diesem Morgen in ihren Wagen werfen. Eintausendachthundert Liter Ultra-Plastik, dreißig Jahre Leben. Ich habe nur das absolute Minimum aufgehoben: einige Kisten mit Erinnerungsstücken, ein paar Möbel, meine eigenen Sachen. Der Bungalow steht zum Verkauf, zwei Käufer scheinen interessiert. Die Sache sollte innerhalb der nächsten Woche über die Bühne gehen.
    Ich werde dann schon woanders sein, in meiner neuen Wohnung in Petite Italie, direkt gegenüber der Statue des alten Dante Alighieri.
    Die Müllmänner haben ihre Arbeit erledigt und wischen sich den Schweiß von der Stirn, ohne etwas von der Geschichte zu ahnen, in der sie soeben auch einen Part übernommen haben. Ich schaue zu, wie der Müllwagen die Säcke mühelos zerkaut und das, was von meiner Mutter übrig ist, hinunterschluckt.
    Das Ende einer Ära – ich betrete Neuland, ohne jeden Haltepunkt. Nervös blicke ich mich um. Der Nikolski-Kompass liegt auf dem Boden in der Nähe des Schlafsacks und zeigt immer noch 34° westlich am Norden vorbei. Ich lege mir seine kirschrote Schur um den Hals.
    Das Müllauto entfernt sich. In seinem Kielwasser kommt der Umzugswagen.

Granpa
    Noah schreckt aus dem Schlaf.
    Alles ist ruhig im Wohnwagen, er hört nichts als das Geräusch eines vorbeifahrenden Autos auf der Straße. Eine Etage unter ihm liegt Sarah in ihren Schlafsack gerollt und atmet ruhig. Er dreht sich auf die Seite, in der Hoffnung wieder einzuschlafen, kann aber keine bequeme Position mehr finden. Im Alter von fünf Jahren war ihm diese enge Schlafkoje noch riesengroß erschienen. Jetzt vergeht keine Nacht, ohne dass er sich eine Beule am Kopf oder eine Schürfwunde am Ellenbogen zuzieht.
    Ein paar Minuten plagt er sich noch in der Hoffnung auf eine komfortable Liegeposition und wird durch diesen stillen Kampf schließlich vollends wach. Er seufzt und beschließt aufzustehen. Lautlos steigt er die Leiter hinab und schlüpft in T-Shirt und Jeans. Am Küchentisch sitzen zwei Chipewyan-Indianer. Sie haben lange weiße Zöpfe und zerfurchte Hände. Noah weiß nicht, wie sie heißen. Der eine ist sein Ur-Ur-Großvater. Was den anderen angeht, hat er keine Ahnung. Es ist fast nichts über die beiden bekannt, außer dass sie im Norden Manitobas lebten und gegen Ende des 19. Jahrhunderts dort auch starben.
    Noah grüßt sie stillschweigend und geht hinaus.
    Der Wohnwagen steht inmitten von vierzig Millionen Hektar Roggen, über denen ein leichter Nebel liegt, aus dem hin und wieder einige Strommasten aufragen. Die Sonne steht noch unter dem Horizont und die Luft riecht nach nassem Heu. In Böen trägt der Wind das weit entfernte Brummen eines Traktors heran.
    Noah geht barfuß vor bis an den Rand des Feldes. Auf dem Grund des Bewässerungsgrabens rinnt etwas Wasser. Der beißende Gestank des Diazinon vermischt sich mit dem Duft der feuchten Erde – bekannte Gerüche.
    Er ist gerade dabei, sich die Hose aufzuknöpfen, als er auf der Straße einen Kleintransporter herannahen hört. Die Hände in die Seiten gestemmt unterbricht er sein Vorhaben. Ein alter roter Ford taucht auf, der voller Karacho vorbeirast und nach Westen verschwindet. Sobald er weit genug entfernt ist, schickt Noah einen langen, glitzernden Strahl Urin in den Bewässerungsgraben.
    Auf dem Weg zurück in den Wohnwagen denkt er über dieses seltsame Gefühl von Scham nach. Er wird den unangenehmen Eindruck nicht los, dieses Fahrzeug sei in einen Bereich seiner Privatsphäre eingedrungen, als führe die Route 627 quer durch ihr Badezimmer.
    Wenn man es sich genau überlegt, ist dieses Bild gar nicht so weit von der Wirklichkeit entfernt.

    Auf die Frage, wo er aufgewachsen sei, hat Noah über Jahre hinweg immer nur vage Antworten genuschelt – in Saskatchewan, in Manitoba, oder auch in Alberta – und schnell vom Thema abgelenkt, bevor man ihn weiter über dieses rätselhafte Tabu ausfragte.
    Nur ganz wenigen Menschen würde Noah die wahre (und wenig glaubwürdige) Geschichte der Sarah Riel, seiner Mutter, erzählen.
    Alles begann im Sommer 1968, als sie ihr heimatliches Reservat nahe von Portage La Prairie verließ. Sie war 16 und hatte die Absicht, einen gewissen Bill zu ehelichen. Seine Haut verschwand die meiste Zeit über unter einer dicken Schicht Rohöl, diese Tarnung aber täuschte
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