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Dickner, Nicolas

Dickner, Nicolas

Titel: Dickner, Nicolas
Autoren: Nikolski
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noch in der Buchhandlung hinter dem Tresen, habe aber einen erstklassigen Blick auf die Rue Saint-Laurent.
    Meine Arbeit ist eher eine Berufung als ein normaler Beruf. Die Stille bietet Gelegenheit zur Meditation, das Gehalt tut dem Armutsgelübde Genüge und die Arbeitsausstattung entspricht voll und ganz klösterlichem Minimalismus. Keine hochmoderne Registrierkasse, alle Preise werden ganz nach der alten Schule auf dem erstbesten Fetzen Papier von Hand zusammengerechnet. EDV-unterstützte Warenwirtschaft gibt es auch keine: Ich bin selbst der Computer und muss mich auf Knopfdruck daran erinnern, wo ich beispielsweise diese Esperanto-Übersetzung von Dharma Bums zum letzten Mal gesehen habe. (Antwort: auf dem Klo hinter den Rohrleitungen des Waschbeckens.)
    Die Arbeit ist nicht so einfach, wie sie scheint: Die Buchhandlung S. W. Gam ist einer dieser Winkel im Kosmos, wo der Mensch seit langem die Kontrolle über die Materie verloren hat. Auf jedem Regalbrett stehen die Bücher in drei Reihen und die Fußböden verschwinden unter Dutzenden von Kisten, zwischen denen sich enge Pfade für die Kunden hindurchschlängeln. Auch die kleinsten Zwischenräume werden genutzt: unter der Kaffeemaschine, zwischen Möbeln und Wänden, im Spülkasten der Toilette, unter der Treppe und bis in die kleinsten, staubigen Nischen unter dem Giebel. In unserem Ordnungssystem befinden sich Mikroklimate, unsichtbare Grenzen, Flöze, Müllhalden, ungeordnete Giftschränke, weite Ebenen ohne sichtbare Orientierungspunkte – eine komplexe Kartografie, die im Wesentlichen von einem guten visuellen Gedächtnis abhängt, ohne das man in diesem Metier nicht lange bestehen kann.
    Doch um hier zu arbeiten, braucht es mehr als gute Augen und ein paar Löffel Grips. Man muss zusätzlich über eine ganz besondere Zeitwahrnehmung verfügen. Tatsache ist, dass – wie soll ich sagen? – verschiedene Zustände unserer Buchhandlung in mehreren Zeiträumen parallel nebeneinander bestehen und nur von schmalen Spalten getrennt sind.
    Dieses Bild verlangt zweifellos nach einer Erklärung.
    Jedes Buch, das hier ankommt, kann zu einem Zeitpunkt auf seinen nächsten Leser treffen, der sich irgendwo in der Zukunft oder in der Vergangenheit befindet. Beim Sortieren von neuen Lieferungen schlägt Madame Dubeau unablässig in in ihrer Enzyklopädie Lavoisier nach – einem Bündel von dreißig Heften, in denen sie seit dem Februar 1971 alle außergewöhnlichen Kundenanfragen vermerkt hat –, um sich zu vergewissern, ob nicht zehn Jahre zuvor jemand nach einem der frisch eingetroffenen Bücher gefragt hatte.
    Von Zeit zu Zeit greift sie mit einem Siegerlächeln zum Telefon.
    „Monsieur Tremblay? Hier Andrée Dubeau von der Buchhandlung S. W. Gam. Sie haben Glück, wir haben soeben die Geschichte des Walfangs in Fairbanks im 18. Jahrhundert reinbekommen!“
    Monsieur Tremblay am anderen Ende der Leitung muss ein Schaudern unterdrücken. Plötzlich sind die strahlend weißen Eisberge, die im Rekordsommer 1987 seine Träume durchzogen haben, zum Greifen nah.
    „Ich komme sofort!“, haucht er fieberhaft, als würde man ihn an eine wichtige Verabredung erinnern.
    Madame Dubeau streicht die Anfrage aus und schließt die Enzyklopädie Lavoisier . Auftrag erfüllt.
    Ich kann diese dreißig Hefte nicht durchblättern ohne zu zittern. Kein anderes Werk zeigt so deutlich, wie die Zeit vergeht: Manche Kunden, die hier namentlich auftauchen, sind seit vielen Jahren tot, einige haben jegliches Interesse an diesen Büchern verloren, andere sind nach Asien gezogen, ohne ihre neue Adresse zu hinterlassen – und viele werden das Buch, das sie einst begehrten, niemals finden.
    Ich frage mich manchmal, ob irgendwo eine Enzyklopädie Lavoisier für all unsere Wünsche existiert, ein vollständiges Verzeichnis unserer kleinsten Träume, der noch so unscheinbaren Begierden, in der nichts verloren geht, nichts hinzukommt, in der sich aber die unaufhörliche Veränderung aller Dinge in ständigem Kommen und Gehen vollzieht – wie ein Paternoster, der die verschiedenen Stockwerke unseres Daseins verbindet.
    Unsere Buchhandlung ist alles in allem eine gänzlich von Büchern erschaffene und regierte Welt – und es erscheint mir vollkommen natürlich, mich ganz und gar darin aufzulösen, mein Schicksal den Tausenden auf Hunderten von Regalbrettern ordentlich übereinander gestapelten Schicksalen zu widmen.
    Manchmal wirft man mir vor, es mangele mir an Ehrgeiz. Vielleicht leide ich auch
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