Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dickner, Nicolas

Dickner, Nicolas

Titel: Dickner, Nicolas
Autoren: Nikolski
Vom Netzwerk:
unverständlichen Sprache mit den hohen Luftschichten unterhielt. Den Schamanen zu spielen brachte jedoch auch einige Gefahren mit sich: Die alten Funk-Hasen – diejenigen, die zu lange schon auf diesem Posten waren – litten oftmals an einem irreversiblen Stimmbandschwund. Man sah sie in Hafenspelunken hocken wie eingeschnappte Barden, die nicht mehr anders als durch Morsezeichen auf ihre Bierkrüge kommunizieren konnten.
    Verschreckt von dieser Aussicht beschloss Jonas, sich wieder auf dem Festland niederzulassen.
    Zehn Jahre nach seiner Abreise ging er im Montréaler Hafen wieder von Bord und sah sich nervös nach allen Seiten um. In seiner Abwesenheit war Québec nacheinander vom Tod des Premiers Duplessis, der Oktoberkrise, der Modernisierung von Montréal, der Weltausstellung und der sexuellen Revolution durchgerüttelt worden. Was er da zu Gesicht bekam, hatte nichts mit dem Seemannsleben oder der industriellen Betriebsamkeit der Häfen zu tun – und schon gar nichts mit dem Québec aus seiner Erinnerung, das sich auf vierzehn Jahre Elend in einem mikroskopisch kleinen Dorf der Basse-Côte-Nord beschränkte.
    Sobald er den Fuß an Land gesetzt hatte, wurde Jonas von einem sonderbaren Übel heimgesucht: Er konnte sich auf einer unbewegten Oberfläche nicht mehr fortbewegen. Die alten Seewölfe kannten diese Gleichgewichtsstörung durch den zu langen Aufenthalt auf dem Meer nur allzu gut. Gegen die Landkrankheit gab es kein Heilmittel. Man musste einfach ein paar Tage warten, bis sich das Innenohr von selbst an die Lage gewöhnt hatte. Jonas machte sich jedoch Sorgen: Tag um Tag verging und seine Horizontlinie hörte noch immer nicht auf zu schwanken. Im Sitzen brachte ihn der Schwindel so weit, dass er vom Stuhl fiel. Im Stehen musste er sich vor lauter Übelkeit über die Reling hängen. Im Liegen rollte er auf dem Bett hin und her wie eine Fahrwassertonne und hatte sich, wenn er erwachte, im Bettzeug verheddert.
    Nach zwei Wochen des Würgens und Bemühens auf diese Art entschied er sich zu einer Radikalkur, die ihn entweder dahinraffen oder genesen lassen würde: Er wollte im Alleingang den Kontinent durchqueren.
    Dieses Großvorhaben mochte unbedeutend anmuten, doch dürfen wir nicht vergessen, dass für Jonas die kürzeste Verbindung zwischen Montréal und Vancouver bisher durch den Panamakanal verlief. Er schwang sich also den Seesack über die Schulter und machte sich auf, grünlich und schwankend, um an der Route 40 den Daumen rauszuhalten.
    Eine Woche später lag Jonas allein am Rand einer kleinen Straße in Manitoba: Schweißüberströmt hatte er sich in der aussichtslosen Hoffnung, seine Übelkeit damit zu lindern, in den Schotter geworfen. Zehn Mal hatte er den Inhalt seines Magens erbrochen und verfluchte sich zwischen zwei Aufstoßern dafür, nicht wieder zur See gefahren zu sein. Da könnte er jetzt gemütlich durch den Norden des Indischen Ozeans schippern, inmitten eines Monsumsturms mit einer Morsetaste unter dem Finger . . .
    Hoch über ihm in der Vertikalen kreiste eine Meute interessierter Geier. Er schloss die Augen, bereit, sich dem Tod durch Übelkeit und durch Verdursten hinzugeben. Als er sie fünf Minuten später wieder öffnete, hielt Sarah ihm eine Trinkflasche mit lauwarmem Wasser hin.
    Das sanfte Schaukeln von Granpa holte Jonas wieder zurück zu den Lebenden.
    Granpa war eine gelbgraue Bonneville Kombilimousine, Baujahr 1966, breiter als lang, mit rostbesprenkeltem Panzerkleid, deren Radio sich weigerte etwas anderes zu empfangen als die Country-Sender auf der Langwelle. Der stotternde Motor dieses Ozeanriesen, durch Zehntausende zurückgelegte Kilometer Fronarbeit am Wohnanhänger vorzeitig verschlissen, gestattete es nur bei Rückenwind, das Tempo von 15 Knoten zu überschreiten. Dieses Festlandgefährt, das noch nie etwas anderes als Prärie und immer nur Prärie gesehen hatte, verstand es gleichwohl auf das Beste, das Wiegen des Meeres perfekt nachzuahmen. Vielleicht waren seine Stoßdämpfer in der Nähe des Atlantiks hergestellt worden? Vielleicht hatten seine abgenutzten Reifen früher an den Bordwänden eines Schleppers gehangen?
    Wie dem auch sei, das künstliche Schlingern rettete Jonas. Er konnte wieder ruhig atmen, die Übelkeit legte sich und das Schwindelgefühl verschwand so erfolgreich, dass sich der Sterbende, der in extremis vor der Insolation gerettet worden war, bereits nach einigen Stunden in einen Corto Maltese verwandelt hatte.
    Als es Abend wurde, lud
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher