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Dickner, Nicolas

Dickner, Nicolas

Titel: Dickner, Nicolas
Autoren: Nikolski
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Sarah Jonas ein, sich im silberglänzenden Wohnwagen ein Plätzchen zu suchen. Dazu muss man sagen, dass sie seit gut zwei Jahren so umherzog und dass sie die Einsamkeit mitunter leid war. Jonas hatte die Absicht, bis zum anderen Ende des Kontinents zu gelangen? Kein Problem. Die Fahrt dorthin ließ sich mit dem Tausch gegen etwas Gesellschaft einfach begleichen.
    Das Paar war nur für die Strecke von 1500 Kilometern füreinander bestimmt. Das reichte aus.
    Ende August kamen sie in die östlichen Vororte von Fort Mcleod, Alberta, dort wo sich zwei Highways trennen. Die 2 geht hinauf in den Norden, in Richtung Calgary. Die 3 verliert sich im fernen Blau der Rocky Mountains. Sarah parkte Granpa auf dem Seitenstreifen und brachte die Situation auf den Punkt:
    „Zum Pazifik, da lang, immer geradeaus.“
    Jonas warf sich den Seesack wieder über die Schulter, atmete tief ein, hüpfte über die Rockys, wechselte so von einem Niederschlagsgebiet ins andere und stieg dann, den Kopf in den Regenmassen, die den Pazifik verhängten, bis hinunter nach Vancouver.
    Neun Monate später hatte Noah seinen großen Auftritt.
    Er habe – so geht die Legende – seinen ersten Atemzug in Manitoba getan, irgendwo zwischen Boissevain und Whitewater nahe der Eisenbahntrasse an einem Ort, der auf den Straßenkarten genau die geografische Mitte Kanadas zu sein schien. In Wirklichkeit war es aber die genaue Mitte von gar nichts: Im Osten erstreckten sich weite Nadelwälder, im Norden schwarzdunkle Hochmoore, im Süden die Turtle-Berge und Dakota und im Westen eine Ebene, die bis nach China zu reichen schien.
    Eine Sache stand fest: Der nächste Ozean war über 2000 Kilometer weit weg.

    So unglaubwürdig es auch klingen mag, das Lesen hatte Noah mithilfe von Straßenkarten gelernt. Sarah hatte ihn nämlich zum Chef-Navigator ernannt, eine Aufgabe, die darin bestand, die vier Himmelsrichtungen, den magnetischen Norden und überdies den Inhalt des Handschuhfachs im Auge zu behalten. Er verbrachte also lange Stunden mit der Erforschung dieses winzigen Raumes, der nach Staub und überhitztem Plastik roch. Neben Kleingeld, unbezahlten Strafzetteln und Kekskrümeln fand man darin ein Dutzend Straßenkarten von Ontario, der Prärie, dem Yukon, Nord-Dakota, Montana, der Westküste und von Alaska.
    Granpas Handschuhfach enthielt das gesamte bekannte Universum, sorgsam gefaltet und geknickt.
    Mit den Jahren waren diese Karten so gut wie durchsichtig geworden, übersät mit einer Vielzahl kleiner Löcher und Risse an den Faltkanten. Durch das Entziffern dieser papiernen Landschaft hatte Noah sich das Alphabet erschlossen, später Worte, Sätze, Textabschnitte. Road Information, Federal Picnicgrounds und Weather Broadcast waren die ersten Worte, die er lesen konnte. Sarah fügte bald einige Namen von Indianerreservaten hinzu – wie Opaskwayak, Peguis oder Keeseekoowenin – wobei sie jeweils genau erklärte, welcher ihrer Urgroßonkels oder Großcousins dort lebte. Erstaunlicherweise machte sie niemals den Vorschlag, diese unsichtbare Verwandtschaft zu besuchen. Noah fragte nicht weiter nach. Sein Stammbaum war wie alles andere auch: eine vergängliche Sache, die mit der Landschaft dahinflog.
    Eines Tages reichten die Landkarten nicht mehr aus, um Noahs Neugierde zu stillen, und er wandte sich dem einzigen Werk zu, das die Familienbibliothek hergab: ein unförmiges Buch, das Jonas bei seinem übereilten Abschied vergessen hatte.

    Niemand konnte sich eine Vorstellung vom Schicksal dieses Buches machen. Nach mehreren Jahrzehnten in den Regalen der Universitätsbibliothek von Liverpool war es von einem Studenten gestohlen worden, ging dann von Hand zu Hand, konnte zwei Bränden knapp entkommen und war später, allein auf weiter Flur, zunehmend verwildert. Es hatte Tausende von Kilometern in mehreren Taschen zurückgelegt, war unter Deck in feuchten Kisten gereist, war über Bord geworfen worden, durchwanderte dann den säuerlichen Magen eines Walfisches, bevor es wieder ausgespuckt und von einem analphabetischen Taucher an Land gebracht wurde. Jonas Doucet hatte es schließlich auf einer Feier in einer Kneipe in Tel Aviv beim Pokern gewonnen.
    Seine Seiten waren brüchig, voll von kleinen rötlichen Punkten, und wenn man die Nase daran hielt, konnte man eine unermüdliche Flora riechen, die eifrig damit beschäftigt war, die Tiefen des Papiers zu besiedeln. Es war nicht nur Noahs einziges Buch, es war auch einzigartig und verfügte über einige markante
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