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Der Duft des Apfelgartens

Der Duft des Apfelgartens

Titel: Der Duft des Apfelgartens
Autoren: Marcia Willett
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Epiphanias
    Die Heilige Familie wohnt in einem alten leinenen Schuhbeutel. Der Beutel ist dunkelbraun und hat ein Namensschild, das direkt unterhalb des gefältelten, gerafften Tunnelzugs aufgenäht ist, wo der Beutel mit einer dicken Kordel zusammengezogen wird. Jedes Jahr zu Heiligabend wird er geöffnet. Die Familie wird hervorgeholt und zusammen mit den Weisen aus dem Morgenland, den Hirten, einem Engel mit einem angeschlagenen Heiligenschein und verschiedenen Tieren auf einem Tisch neben dem Weihnachtsbaum aufgestellt. Die Figuren haben ihren eigenen Stall, ein offenes Gebäude aus Holz, das einmal zu einem schmucken Spielzeugbauernhof gehört hat, und sie passen genau hinein: der goldene Engel, der andächtig hinter der Krippe steht, und darin das kleine Jesuskind in weißen Windeln. Seine ganz in Blau gekleidete Mutter kniet am Kopfende der Krippe, gegenüber einem Hirten, der vor dem Kind auf die Knie gefallen ist und freudig und anbetungsvoll die Arme ausstreckt. Josef in seinem roten Umhang und ein zweiter Hirte, der ein Lamm um den Hals trägt wie einen Pelzkragen, stehen ein wenig abseits und sehen zu. Ein schwarz-weißer Ochse hat sich schläfrig in einer Ecke zusammengerollt, nicht weit entfernt von dem grauen Esel, der den Kopf leicht gesenkt hält. Und draußen, gleich vor diesem häuslichen Bild, kommen die drei Weisen aus dem Morgenland in ihren farbenprächtigen wehenden Gewändern heran. Sie schreiten hintereinander her und bringen ehrfürchtig Geschenke; Gold, Weihrauch und Myrrhe.
    Jakey steht dicht vor dem Tisch und betrachtet die Krippenfiguren, die sich in seiner Augenhöhe befinden. Ab und zu hebt er vielleicht eine der Figuren hoch, um sie genauer anzusehen: den angeschlagenen Heiligenschein des Engels; das Lamm, das sich so friedlich um den Hals des Hirten schmiegt; die winzigen Kästchen, die die Weisen aus dem Morgenland tragen. Einmal hat er das Jesuskind fallen lassen, und es ist unter das Sofa gerollt. Oh, was für ein schrecklicher Augenblick, als er flach auf dem Gesicht gelegen und unter dem schweren Möbel herumgetastet hat! Ganz heiß vor Frustration war ihm, weil er es nicht bewegen konnte. Und dann die gewaltige Erleichterung, als sich seine Finger um die kleine Gestalt schlossen und er das Jesuskind unbeschädigt hervorholte und es wieder in seine blau ausgeschlagene Krippe legte.
    Als Jakey jetzt bei der Weihnachtskrippe steht, wird er sich langsam der Geräusche bewusst, die ihn umgeben: die gewichtig tickende Uhr, deren Pendel wie ein ärgerlich wackelnder erhobener Zeigefinger wirkt; das Seufzen und Rascheln aschebedeckter Scheite, die auf dem Feuerrost zusammensacken; sein Vater, der nebenan in der Küche telefoniert; und das monotone Quaken des leise gestellten Radios. Heute wird die Dekoration abgenommen, weil Dreikönigstag ist: Weihnachten ist vorüber.
    Jakey singt leise vor sich hin. »Die Heiligen Drei König’ mit ihrigem Stern, sie suchen das Kindlein, den Heiland, den Herrn …«
    Er fühlt sich unruhig und ist traurig darüber, dass die winzigen strahlenden Lichter und der hübsche Baum nicht mehr da sein werden, um die kurzen, dunklen Wintertage aufzuhellen. Jakey singt immer noch halblaut, als er auf das Sofa klettert und einen Kopfstand versucht: den Kopf in den Kissen und die Beine an die Lehne gestützt, bis er zur Seite sinkt und langsam auf den Boden rutscht. Seine Füße liegen immer noch auf dem Sofa. Auf dem Teppich dreht er den Kopf und sieht Tante Gabriel an, die auf dem Bücherregal steht und die Oberaufsicht über die weihnachtlichen Feierlichkeiten zu führen scheint. Der Engel ist über einen halben Meter groß, trägt robuste Holzschuhe und ein Kleid aus weißem Krepppapier und hat wattierte goldene Flügel. Tante Gabriels Haar besteht aus Bindfäden, aber ihr mit scharlachrotem Garn aufgestickter Mund lächelt mitfühlend und doch freudig. Die plumpen Füße stehen eckig und fest auf dem Boden, aber wenn man ihr die Krone aus Golddraht auf das flachsblonde Haar setzt, hat sie etwas Überirdisches. Behutsam hält sie ein rotes Satin-Herz in den Händen – vielleicht ein Symbol für die Liebe? So zumindest hat Dossie es erklärt.
    In dem Zimmer hängen noch mehrere andere, kleinere Engel an praktisch angebrachten Haken, doch keiner von ihnen kann es mit Tante Gabriel aufnehmen. Sie ist nicht so wild und kalt und prachtvoll wie der Erzengel selbst, der in all seiner Macht und Herrlichkeit vom Himmel heruntergeflogen kommt und einen
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