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Tiefer

Titel: Tiefer
Autoren: Sophie Andresky
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    |9| Die Mundhure
    In guten Nächten mache ich sechs- bis siebenhundert Mark im Ulysses. Ich bleibe, bis es draußen hell wird und auch der letzte
     Kunde auf allen vieren zum Taxistand gekrochen ist. Die Zeit zwischen Sonntagmorgen und Freitagmittag kommt mir viel unwirklicher
     vor als das bunt zuckende Licht, die dröhnende Musik, die noch tagelang als schrilles Fiepen in meinem Kopf sitzt wie ein
     großes Insekt. Ich bin als Studentin eingeschrieben, Betriebswirtschaft, aber mal ehrlich: Der wahre Betrieb ist woanders,
     und die Wirtschaft ankurbeln kann ich im Ulysses auch besser als im Hörsaal. Wenn mich jemand fragt, was ich so mache, antworte
     ich: «Ich bin sozusagen selbständig» oder: «Ich habe viel mit Menschen zu tun.» Das reicht dann schon.
    Den Rest der Woche sitze ich mit einer Jumbotasse Milchkaffee am Fenster, schütte esslöffelweise Zucker hinein und trinke
     die heiße Brühe, während meine Füße in dicken grauen Bergsteigersocken auf der Heizung liegen und ich Kreuzworträtsel löse.
     Dieser heiße Zuckerkaffee ist oft alles, was ich koche, ist meine Nährlösung. Und wenn es dann Zeit wird, stehe ich auf, reibe
     mir den Hintern und gehe ins Bad. Ich verwandle mich. Das Girlie in den Armeeklamotten mit dem |10| blauen Wischmopp auf dem Kopf verwandelt sich zu der Sphinx, für die meine Kunden viel Geld bezahlen: langes glattes blaues
     Haar, in der Mitte gescheitelt, weiß bemalte Lippen, farbige Kontaktlinsen, eine zerlöcherte Jeans und auf die Brüste zwei
     große Aufkleber mit Pfauenfederaugen. Fertig.
    Ich packe meine Sachen in eine Handtasche und zwänge mich in ein Paar Stilettopumps. Als ich das erste Mal versuchte, darauf
     zu gehen, hatte ich die Anmut von Goofy auf Glatteis. Wenn ich etwas zu sagen hätte, würde ich ein Gesetz erlassen, dass alle
     Männer ein Pflichtjahr auf Pumps machen müssen, damit sie wissen, was sie uns antun.
    In guten Nächten sind die Tanzflächen und vor allem die Barhocker voll, aber die Nischen, in denen rote Plüschsofas stehen,
     relativ frei. Man sitzt tief darin, und manchmal rutscht ein Mädchen bis zur äußersten Kante und spreizt die Knie weit, damit
     jemand, der vor ihr auf der Tanzfläche steht, sie bemerkt und mitnimmt. Das sind die Schlüpfermädchen, obwohl sie oft nicht
     mal einen tragen. Die wissen genau, was die Männer im bunten Licht der Nischen zu sehen bekommen. Wenn dann einer mit den
     Augen genau zwischen den Schenkeln von so einer hängen bleibt, saugt sie ihn zu sich heran. Von ihrem rasierten, buntpuscheligen
     oder Intimschmuck-behängten Pfläumchen geht ein Sog aus, der Typ hört auf zu tanzen, starrt hypnotisiert in die feuchte Spalte
     und würde am liebsten hineinschlüpfen, mit der Zunge voran.
    |11| Ich habe so etwas nicht nötig. Die Männer kommen zu mir. Ältere oft, die jungen sind zu ungeduldig, die wollen ran ans Fleisch.
     Die wippen und hüpfen die ganze Zeit wie Pfaue auf der Balz und springen die Mädchen an, statt mit ihnen zu sprechen.
    In guten Nächten sind im Ulysses Männer, die mich kennen. Die genau wissen, wie so etwas abläuft, die mich zu schätzen wissen
     und entsprechend bezahlen. Wir treffen uns in den Nischen, denn nur da ist es leise genug, um sich zu unterhalten – vorausgesetzt,
     man steht oder sitzt sehr nah beieinander, aber das gehört sowieso zu meinem Job. Ich suche mir immer ein Sofa, von dem aus
     ich alles genau im Blick habe, ich gewöhne mich an die Lautstärke, das Hämmern der Beats im Magen. In eine Disko wie das Ulysses
     kommt niemand zum sportlichen Spaßhaben oder Tanzen. Im Grunde geht es nur um Sex. Die Männer tragen ihre Erektionen vor sich
     her, als wären sie der heilige Gral. Und die Frauen sind ganz Brüste. Unter engen Fähnchen tragen sie Pushups oder gar nichts.
     Jedes Gramm Bauchfett wird bis unters Kinn gepresst, bis es aussieht, als trügen sie hochgerutschte Kokosnusshälften unterm
     Hemd. Die Anfängerinnen kommen in schwarzer Kleidung, weil sie glauben, dass Schwarz sexy ist, ist es auch, aber nicht in
     der Disko. Was im Schwarzlicht am besten aussieht, sind weiße Oberteile auf gebräunter Haut, die springen einen richtig an.
     Und ums Besprungenwerden geht es immerhin. Alles hier ist Onanie. Na ja, im Grunde ist es Verzweiflung. Die Singles sind frustriert, |12| weil sie Singles sind. Und die Paare, weil sie nicht mehr baggern können. Die Älteren sind frustriert, weil sie neben dem
     ganzen Frischfleisch wie Dörrobst
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